"Last Christmas" hat Geburtstag: Eins der beliebtesten Weihnachtslieder der Deutschen wird 40 und läuft alle Jahre wieder in der Vorweihnachtszeit in Dauerschleife. Doch warum eigentlich? Wir haben bei einem Musiksoziologen nachgefragt.
Seit 40 Jahren beschallt "Last Christmas" die Kaufhäuser, Weihnachtsmärkte und Wohnzimmer der Republik in den Wochen vor Weihnachten: Im Dezember 1984 brachten
Während ihn die einen lieben, hassen ihn die anderen. Aber was genau macht "Last Christmas" überhaupt zum Ohrwurm? Und warum hören wir den Song seit den Achtzigern in Dauerschleife? Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt der Musiksoziologe Fritz Böhle, warum "Last Christmas" ein raffinierter Song ist.
Mehrmals während des Interviews setzt er sich an sein Klavier. Denn mit Musik erklärt es sich eben immer noch am einfachsten, warum es gerade der Anfangsakkord ist, der so ikonisch für eins der beliebtesten Weihnachtslieder steht.
Im Video zu "Last Christmas" wird eine Sehnsucht der Menschen angesprochen
Herr Böhle, warum hören wir seit 40 Jahren immer wieder den gleichen Song?
Fritz Böhle: "Last Christmas" hat eine sehr eingängige Melodie und Harmonie, die man gut nachsingen kann. Das vermittelt ein angenehmes Gefühl, ein beinahe feierliches – und das, obwohl es, musiktheoretisch betrachtet, kein Riesenhit ist. Wichtig ist aber auch das Video, das eine sehr, sehr wichtige Funktion hat: Hier wird Weihnachten als soziales Event gezeigt und nicht als religiöses. Das macht es raffiniert, denn Weihnachten wird modern interpretiert: Man sieht nicht die spiessige Kleinfamilie, sondern eine grössere Freundesgruppe. Also das, wonach sich der moderne Mensch sehnt: Er ist individuell, möchte aber trotzdem sozial eingebunden sein. Bei "Last Christmas" findet die Verschiebung von Weihnachten als religiösem Ereignis hin zu einem sozialen Event statt.
Das meinen Sie mit raffiniert?
Genau, in dem Video liegt die Sehnsucht, Weihnachten mit guten Freunden zu verbringen und eingebunden zu sein. Es kommt aber auch noch ein anderer Aspekt hinzu: Es gibt auch Menschen, die mit Weihnachten gar nichts zu tun haben wollen, denen der Kitsch und die Gefühlsduselei zu viel sind. Die können sich auch nur den Text anhören – und vielleicht doch etwas damit anfangen. "Last Christmas" wurde ursprünglich für Ostern geschrieben und handelt von einer verflossenen Liebe. So wird dieses Lied auch anschlussfähig für all diejenigen, die Weihnachten ironisierend gegenüberstehen – das ist auch kein Widerspruch, eher eine Bestätigung: Wenn man Gefühle und Emotionen rund um Weihnachten ablehnt, lehnt man auch eingängige Musik ab, weil man vielleicht nur anspruchsvolle Musik hören möchte, nur Klassik oder Jazz. So lässt sich aus dem Lied auch etwas Kritisches heraushören. Das kann Zufall sein – aber raffiniert ist es in jedem Fall.
Es holt also jeden ab.
Ja! Jeder kann die unterschiedlichsten Dinge hineininterpretieren. Die Musik ist ebenfalls raffiniert und gar nicht so einfach, wie man vielleicht annehmen möchte: In der Harmoniefolge entsteht eine Spannung zwischen Dur und Moll. Und der Anfangsakkord gehört nicht zum Grundton der Harmonie, er ist einen Ton darüber. Das erzeugt Aufmerksamkeit.
Man wird sofort reingezogen.
Genau, gerade weil der Akkord nicht passt, weil es nicht harmonisch beginnt. Das wird aber direkt danach aufgelöst. Das Grundmotiv erinnert an Kirchenglocken, dabei empfindet man direkt etwas Feierliches, etwas Weiches.
Macht das "Last Christmas" zum Ohrwurm?
Das Eingängige macht es zum Ohrwurm. Warum es ein Hit geworden ist, ist natürlich schwieriger zu erklären. Wenn man wirklich wüsste, was einen Song zum Hit macht, würden viel mehr Hits geschrieben werden.
Ist ein Song wie "Last Christmas" heute noch möglich?
Kann in unserer heutigen Zeit überhaupt noch so ein Song entstehen? Ist es heute schwerer, dieses eine Lied zu schreiben, das alle Menschen in ihren Sehnsüchten abholt, weil unsere Gesellschaft viel komplizierter ist als vor 20, 30 oder 40 Jahren?
Das ist eine spannende Frage. Ich würde auch sagen, dass alles viel zu heterogen geworden ist. Heute ist die gesellschaftliche Lage eine ganz andere. "Last Christmas" passt in die 80er-Jahre, damals gab es eine gewisse Naivität. Heute gibt es eine Zerrissenheit, eine Uneindeutigkeit, man hat nicht mehr so klare Metaphern für die heile Welt. Aber auch in "Last Christmas" gibt es diesen Bruch durch den Anfangsakkord und zwischen Musik und Text. Allerdings müsste in einem Song, der heute geschrieben wird, diese Gebrochenheit viel stärker präsent sein.
Auch Musikvideos sind heute nicht mehr so wichtig wie früher.
Genau, heute müsste alles viel ambivalenter sein. Ein Song für die heutige Zeit bräuchte immer noch einen Sehnsuchtspunkt, aber gleichzeitig müssten auch alle Vorbehalte und Brüche mit berücksichtigt sein.
Dennoch hören wir "Last Christmas" seit 40 Jahren. Das war vorausschauend von Wham!, die den Song in den Achtzigern geschrieben haben.
In den Achtzigern war "Last Christmas" glaube ich noch nicht so erfolgreich, das kam erst zur Jahrtausendwende. Aber natürlich gab es in den Achtzigern die Wende, die 68- und 69-Generationen haben sich vom Religiösen und von der Kleinfamilie befreit.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Fritz Böhle ist Musiksoziologe und spielt mehr als zehn Instrumente, so genau kann er die Anzahl gar nicht nennen. Ausserdem ist er Leiter der Forschungseinheit für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg. Er wurde 1945 in Oberstdorf geboren und studierte Soziologie in Verbindung mit Volkswirtschaft und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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