Die vergangenen sieben Tage werden vermutlich nicht in die Kategorie "Topwoche für Tagebuchschreiberinnen" eingehen. Wenn man so will, hat sich die abgelaufene Kalenderwoche exakt so verhalten wie die Ampel-Regierung: wahnsinnig viel Potenzial, aber alle Joker widerstandslos aus der Hand gegeben. Das startete mit dem Champions-League-Finale und endete in einem "All Eyes on Rafah"-Influencer-Desaster. Aber mal der Reihe nach.
Die Woche der Wahrheit sollte es werden, die Woche der Witzfiguren wurde es. Zunächst taten Borussia Dortmund und Real Madrid exakt das, was sie historisch betrachtet immer am besten konnten. Borussia Dortmund vergeigt entscheidende Finalspiele. Real Madrid liefert Exempel dafür, warum sie im Umkreis von mehr als 20 Kilometern um das Estadio Santiago Bernabéu niemand leiden kann. Das alles komprimiert in 90 Minuten Champions League Showdown im Londoner Wembley Stadion.
Reus against the Machine
Als ich zuletzt in Wembley war, sah ich ein
Am Samstag war ich nicht in Wembley. Borussia Dortmund hingegen schon. Sie kennen den Ausgang – Dortmund spielte überraschend souveräne 60 Minuten und schlug sich dann selbst. Was immerhin besser war als das Saisonfinale vor Jahresfrist, als man gegen Mainz die Meisterschaft verspielte. Mainz ist nicht Madrid, und damals gab es auch keine 60 Minuten guten Fussball, sondern null.
Für eine knappe Stunde jedenfalls hatte man den Eindruck, das weisse Ballett der königlichen Milliardentruppe hätte die Lust an diesem Samstagabend in London verloren, sich vom BVB in einen zermürbenden Zweikampf-Kleinkrieg um jeden Meter Rasen runterziehen zu lassen. Real Madrid verzichtet seit einigen Jahren auf die grossen Künstler im Mittelfeld.
Wo sich früher Megastars wie
An jenem Abend liess sich diese Weltauswahl bis weit in die zweite Hälfte hinein von Spielern wie Emre Can, Marcel Sabitzer oder Nico Schlotterbeck abkochen, die in den Notizbüchern der Real-Scouts ungefähr so prominent auftauchen, wie Richard David Precht beim Literaturnobelpreis. Dann aber plötzlich doch wieder business as usual: Dortmund verschenkt Fehlpässe am eigenen Straftraum und Real mogelt sich mit fussballerischer Klasse, einzigartigen Schwalben-Einlagen und einer ordentlichen Portion Schiedsrichter-Wohlwollen zum Sieg.
RIP Kasia
Aber auch andere Themen haben es diese Woche in die Vitrine mit den rückblickkompatiblen Highlights geschafft. Um beim Fussball zu bleiben: Ex-Nationalspieler
Proteste blieben nicht aus, von Fanseite wie aus der Öffentlichkeit. Und auch vereinsintern scheint die Personalentscheidung auf maximal moderat begeisterte Mitarbeiter zu stossen. Die Torwart-Trainerin des Lokalrivalen Blau-Weiss Linz wurde jedenfalls bereits mit einer Jacke auf dem Trainingsgelände gesichtet, auf der in grossen Buchstaben "Kasia Lenhardt" prangte.
Kasia, die 2012 bei "Germany's Next Topmodel" Vierte wurde, unterhielt eine Beziehung zu Jérôme Boateng, die von Gewalt und Betrug überschattet worden sein soll. Sie gipfelte in einem Cybermobbing-Tsunami für das junge Model, der mit ihrem Suizid endete. Eine unendlich traurige Episode um eine unschuldige junge Mutter, deren Tod – so legen es zumindest viele Medienberichte und der aktuelle Podcast "Die Akte Kasia Lenhardt" nahe – in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verhalten von Boateng stehen soll.
All Eyes on Faktenallergie
Im täglichen Dschungel der Existenzoptimierung junger Prominenter und Influencer gab es derweil diese Woche ein Kleinod faktenallergischer Gruppendynamik-Phänomene zu bestaunen. Statt sich beispielsweise darüber zu wundern, warum ein Fussballer mit der privaten Historie eines Jérôme Boateng in dieser Gesellschaft noch hochbezahlter Profifussballer und damit Vorbild für viele junge Menschen sein darf, teilte man lieber ein Sharepic, das dazu aufrief "All Eyes on Rafah" zu richten.
Ein episches Eigentor der Selbstbeweihräucherungs-Armada, in der Social-Media-Protagonisten aus der Ich-Ich-Ich-Industrie zeigten, dass sie weder zu einfachsten Faktenchecks noch zur Quellenüberprüfung fähig – oder, noch schlimmer: gewillt sind.
Das Bild, das offenbar eine Kritik am Vorgehen Israels im Nahostkonflikt darstellen soll, zeigt eine KI-generierte Landschaft, in deren Zentrum eine riesige Zeltstatt thront, die den Schriftzug "All Eyes on Rafah" formt. Voller Überzeugung, auf der richtigen Seite des Narrativs und keinesfalls im PR-Würgegriff der Hamas zu stehen, wurde das Bild innerhalb von 48 Stunden fast 50 Millionen Mal geteilt. Zumeist ohne jeglichen Kontext, eingebettet in den üblichen Content handelsüblicher Influencer, die üblicherweise weitestgehend politikbefreite Inhalte präsentieren – vornehmlich Selfies, Schmink-Tutorials, Kochtipps, Rabattcode-Festivals und Dating-Erlebnisse.
Dass das Bild gar nicht Rafah zeigt, hätten sie ohne längeren Rechercheaufwand herausfinden können. Im Hintergrund der Zeltstadt türmen sich aus unerfindlichen Gründen schneebedeckte Berge auf. Rafah ist jedoch keine Stadt am Fusse der Alpen, und auch wetteranalytisch sieht Gaza zurzeit nicht unbedingt nach Skigebiet aus.
Das hätte man sogar noch aus einem halbwegs vernünftigen Schulwissen herleiten können. Aber da trifft leider auch bei deutschen Influencern offenbar der legendäre Satz von Comedy-König Ricky Gervais zu, der der vollzählig versammelten Hollywood-Schauspiel-Elite einst von der Bühne der "Golden Globes" zurief: "Ihr seid nicht in der Position, die Öffentlichkeit über irgendetwas zu belehren. Ihr wisst nichts über die reale Welt. Die meisten von Euch haben weniger Zeit in der Schule verbracht als Greta Thunberg."
Zum Glück gibt es Cathy Hummels
Nun möchte ich mich über Länge, Qualität und erreichte Erfolge der Schulzeit junger deutscher Prominenter nicht auslassen. Was jedoch betrüblich zu beobachten ist: Die Brigade der sonst stets um besondere Sorgfalt beim Verbreiten von Informationen bemühte Generation selbstverliebter Handykreativer teilte das Bild, ohne auch nur annähernd ausreichend über die Sachlage im Nahen Osten informiert zu sein – und vor allem, ohne seine Herkunft zu prüfen.
Dann wäre ihnen womöglich aufgefallen, dass Urheber und Quelle der Viral-Sensation ein harter Antisemit ist, der bislang vor allem mit rassistischen und menschenfeindlichen Inhalten aufgefallen war. Inhalten also, von denen sich jeder der "All Eyes on Rafah"-Reflexteiler im Normalfall innerhalb von Sekunden distanzieren würde. Hier jedoch teilt man freimütig ohne jede Qualitäts- und Herkunftskontrolle. Warum?
Ich möchte dieses eigentümliche Vorgehen bei einem so sensiblen Thema gerne der Verzweiflung zuschreiben, unbedingt auch etwas beigetragen haben zu wollen. Dem Wunsch, nicht am Ende der- oder diejenige gewesen zu sein, der oder die nichts gesagt hat. Und dem verlockenden Teilreflex einer charmant konfektionierten Botschaft, die man mit nur einem einzigen Share-Klick vereinnahmt und damit seine Schuldigkeit getan hat.
Und wenn es so viele andere teilen, die ich kenne, da muss es doch gut sein, oder? Ich werde an dieser Überzeugung festhalten. Vor allem, da ich viele Starspieler der "All Eyes on Rafah"-Teilkanonenfutter-Squad in den kommenden Tagen und Wochen persönlich auf Events, in TV-Studios oder auf der Fashion Week persönlich wiedertreffen werde.
Jede andere Variante der Einordnung führte unweigerlich zu der Frage, ob auch unterschwelliger Antisemitismus eine Rolle dabei spielen könnte, dass eine so stattliche Anzahl deutscher Prominenter ein solches Bild aus einer solchen Quelle euphorisch teilt. Und das möchte ich nicht zulassen.
Da lobe ich mir Verteidigerinnen der boulevardtauglichen Inhalte, die für erfrischende Abrüstung im Fake-News-Gewitter sorgen.
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