80 Millionen Teilzeit-Bundestrainer sind wieder im Einsatz. Über Liebe auf den ersten Fangesang, eines der grössten Mysterien dieser EM und Turbopatrioten mit dubiosem Farbverlauf im Profilbild. Der satirische Wochenrückblick.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Überraschend steht dieser Wochenrückblick erneut vornehmlich im Zeichen der Fussball-Europameisterschaft. Selbstverständlich aber widme ich mich antizyklisch zur sportmedialen Berichterstattung hier ausschliesslich relevanten Nebenfeldschauplätzen.

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Um zu diskutieren, ob Kai Havertz eher "Falsche Neun" oder "Abgekippter Stossstürmer" spielt, gibt es ja den "Kicker" - und die 80 Millionen Teilzeit-Bundestrainer. Jene universalbegabten Spezialexperten, die für die lauschigen Wochen zwischen Fan-Meile und Fan-Kurve rechtzeitig Urlaub von ihrer logischen Karriere-Evolution der vergangenen Jahre nehmen. Dort traten sie zuletzt als Pandemie-, Ukraine-, Nahost-, Inflations-, Waffen-, Klima-, ESC- und Wärmepumpen-Experten auf.

Um mich der inflationären Richard-David-Prechtisierung des Diskurses zu entziehen, bei dem traditionell jeder nicht nur eine Meinung zu allem haben, sondern selbige vor allem auch lautstark kundtun muss, konzentriere ich mich im Konzert der Ballstafetten-Analysten lieber auf die Beikost, die uns das Drei-Sterne-Gourmet-Turnier dieser Tage in unsere Wohnzimmer und in unsere (Achtung, bitte jetzt vorsichtshalber den Romantik-Schalter umlegen) Herzen trägt.

Die Schotten beispielsweise haben sich im Kilt, ohne Unterwäsche und mit reichlich hochprozentiger (flüssiger) Fachliteratur zu echten Lieblingsmigranten gemausert. Während sich zumindest der bildungsferne Teil der Fraktion deutscher Michels in den letzten Jahren mehr und mehr von rechtsauslegenden News-Attrappen ehemaliger Chefredakteure und dem Russland-China Joint Venture AfD dazu hat einlullen lassen, alle in Gruppen in unser Land einreisenden Männer ohne weibliche Begleitung oder dem Vorhaben, hier in der Bundesrepublik möglichst zeitnah einer geregelten Arbeit nachzugehen, als dringend schnellstens abzuschiebende Sozialschmarotzer nichtwillkommen zu heissen, wollte man den über den Ärmelkanal aus den Highlands der Fankultur zu uns eingefallenen Choreoflüchtlingen am liebsten umgehend die deutsche Staatsbürgerschaft verleihen. Oder sie wahlweise adoptieren.

Die Stadt Köln etwa sehnte sich - noch während die Schottland-Schlachtenbummler sich für ihr Freiluftkonzert gegen die Schweiz in der Domstadt einfanden - bereits danach, sie alsbald wieder begrüssen zu dürfen. Es war Liebe auf den ersten Fangesang.

Köln und Schottland, diesen Kontext darf man dabei nicht verschweigen, haben allerdings auch EM-unabhängig einige Gemeinsamkeiten: Es wird viel gefeiert, besonders gerne verkleidet. Alteingesessene sprechen eine Sprache, die auch die meisten Einheimischen nicht mehr verstehen können und als das Schicksal die Schönheit verteilte, lagen sowohl Köln wie auch Schottland besoffen in der Ecke und konnten nicht "hier" schreien.

Im Namen Kölns also, dem Schottland der deutschen Grossstädte, wandte sich Bürgermeisterin Henriette Reker an die Gefolgsleute des nördlichsten Landes Grossbritanniens, um für eine schnellstmögliche Rückkehr zu werben. Gut, Reker gilt seit ihrer "Armlänge Abstand"-Lyrik im Zusammenhang mit der Silvesternacht 2015 als eher problematisch im Umgang mit Einzelreisenden Ausländern, die am Kölner Bahnhof ankommen, darf aber wohl davon ausgehen, dass schottische Reisegruppen sie nicht direkt googeln.

Schotten sind dicht

Wie die alkoholhistorisch recht sattelfesten Schotten nach dem unterdurchschnittlich mitreissenden 1:1 gegen die Eidgenossen aus der Schweiz ausgerechnet in der Stadt ihren Frust ertränken konnten, in der Bier nur abgestanden und in Reagenzgläsern offeriert wird, bleibt eines der grössten Mysterien dieser Europameisterschaft. Auch das Spiel hatte zuvor wenig zur Euphorie beigetragen. Nach der amtlichen 1:5 Klatsche gegen die Macher des Sommermärchens 2006 gab es aber immerhin den ersten Punkt und sogar das erste Tor, das nicht ein Gegenspieler per Eigentor erzielt hatte. Ein schöner Moment auch für Antonio Rüdiger, dessen EM-Bilanz bisher so aussieht: ein Eigentor, eine Medienhetzkampagne.

Die richtige Antwort auf die auf dem ganz rechten Flügel durchgebrochene Stolzdeppen-Armada gab das deutsche Team dann (Sie werden eventuell davon gehört haben) umgehend. Gegen Ungarn spielt die Nationalelf spätestens seit dem Wunder von Bern grundsätzlich nicht ungern. Haha, Ungarn, ungern, Sie verstehen? Die deutsche Elf jedenfalls, der man aus der Rechts-Bubble nach dem peinlichen Vorrundenaus bei der WM in Katar vorgeworfen hatte, aus Wokeness versagt zu haben, trat radikal durchverschwurbelt in pinken Trikots an. Wokeness als Stilmittel. Wobei: Ich weiss gar nicht, ob Sie es wussten, aber Regenbogen-Kapitänsbinden können gar keine Gegentore heraufbeschwören.

Davon unbenommen hatte das neue Away-Trikot bereits vor EM-Start zu einigen herzinfarktnahen Schnappatmungs-Anfällen bei einer Klientel gesorgt, die eine deutsche Männermannschaft traditionell lieber in Braun würde auflaufen sehen. Wie so oft in den zahlreichen Scheindiskussionen, die wir in diesem Land führen, weil sich Politik und Medien stets von einer sehr lauten Minderheit dazu verführen lassen, fälschlicherweise davon auszugehen, dass die am lautesten und penetrantesten vorgetragenen Meinungen gleichzeitig Mehrheitsmeinungen sein müssten, hatte man im Diskursparadies Deutschland zwischenzeitlich den Eindruck, etwa 60 Prozent der Bundesbürger würden umgehend auswandern, wenn jetzt noch irgendwer aus dem EM-Kader öffentlich gendert.

Rassismus im Fussball

Die nicht so laute, dafür aber zahlenmässig überlegene Mehrheit regelte das ganz zum Stolz unseres Finanzministergenies Christian Lindner nicht in Social-Media-Kommentarspalten, sondern über den sogenannten Markt. Das pinke Away-Trikot wurde zum Verkaufsschlager und zum meistverkauften Ersatz-Jersey aller Zeiten. Zumindest im Berliner Stadtbild sieht man das pinkfarbene Trikot zuweilen öfter als das weisse, in jedem Fall aber deutlich häufiger als jede Facette von Braun.

Das ist aber noch lange nicht die schlechteste Nachricht für alle Turbopatrioten mit dubiosem Farbverlauf im Profilbild. Nachdem in besagtem Ungarn-Spiel das pinkfarbene Trikot offizielle Pflichtspielpremiere feierte, erzielten mit Jamal Musiala und Ilkay Gündogan dabei ausgerechnet zwei Adlerträger die Tore, denen die Idiotenmafia aus latent rassistischen Hobbyhitlern und pseudotraditionellen Arier-Ultras gerne Attribute wie "Passdeutscher" oder "nicht weiss genug" verleiht, um ihrer kognitiven Privatinsolvenz nachdrücklich Ausdruck zu verleihen.

Wenn man so will: Ein Volkstrauertag für AfD-Sympathisanten, für die die Woche nur schlimmer werden könnte, wenn Wladimir Putin den Geldhahn zudrehen oder Annalena Baerbock Kanzlerin würde. Letzteres jedoch ist glücklicherweise nach Baerbocks Geisterfahrt im Umgang mit dem Gaza-Krieg und ihrer verblüffenden Affinität für das Verbreiten ungeprüfter Fake News inzwischen unwahrscheinlicher als ein Liebes-Comeback von Dieter Bohlen und Verona Feldbusch (mittlerweile Pooth).

Lilly und die Idiotenfabrik

Einen leichten, aus der handelsüblichen Hyperempörung intellektueller Nebensaison-Camper entstehenden Kollateralschaden gab es dann aber dennoch. Die zauberhafte Lilly Blaudszun etwa rasselte diese Woche in eine Konfrontationssituation, die grotesker kaum hätte ausfallen können.

Als sie auf dem Kurznachrichtendienst Twitter (Elon-Musk-Fans unter "X" bekannt) ihre euphorische Freude darüber zum Ausdruck brachte, wie fantastisch die EM in Deutschland angelaufen war, bekam sie neben unzähligen Zuspruchsbekundungen auch die recht exotische Kritik dargereicht, sie würde ein Fussballturnier in einem Staat bejubeln, der sich eklatanter Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hätte.

Ja, so habe ich auch im ersten Moment geguckt.

Im konkreten Wortlaut klingt der, na ja, vom selbsternannten "Menschenrechtsaktivist" Mouatasem Alrifai formulierte Vorwurf sogar noch absurder: "Die SPD-Influencerin Lilly Blaudszun boykottierte 2022 die WM in Katar angeblich wegen der Menschenrechtssituation dort. Heute feiert sie die EM in Deutschland. Offenbar ist es für sie in Ordnung, dass hochrangige deutsche Politiker*innen Palästinenser*innen, Araber*innen und Muslim*innen pauschal unter Generalverdacht stellen, sie stigmatisieren und Rassismus gegen sie schüren, dass Deutschland die palästinasolidarische Bewegung kriminalisiert und am Völkermord an den Palästinenser*innen beteiligt ist. Warum ist es für einige Leute so schwierig, sich unabhängig von der Herkunft oder Religion der Täter*innen und der Opfer für Menschenrechte einzusetzen? Warum gilt das, was sie in ihrem Tweet geschrieben hat, nicht auch für die EM in Deutschland?" (Gendersternchen aus Originaltext übernommen).

Wenn man nach diesem kausaloriginellen Wortschwall seine Synapsen wieder neu kalibriert und sein Logikzentrum wiederbelebt hat, kann man zusammenfassen: Alrifai wirft Blaudszun hier vor, eine Rassistin zu sein und stellt nebenbei Deutschland in Menschenrechtsfragen auf eine Stufe mit Katar. Gleichzeitig behauptet er, es würde einen Völkermord in Gaza geben (eine Unterstellung, die nichtzutreffend und unter Umständen strafbar ist) und Deutschland wäre daran aktiv beteiligt. So viele Falschbehauptungen und Nichtkausalzusammenhänge in so einem kurzen Text - das sollte man durchaus als Kunstform begreifen. Inhaltlich ist es zweifelsfrei eine intellektuelle Bankrotterklärung. Mouatasem Alrifai ist übrigens Mitglied des Nürnberger Rates für Integration und Zuwanderung. Sowas kann man sich nicht ausdenken.

Wie tief ist der Timber Lake?

Weitestgehend unberührt von der EM und auch bislang noch nicht in den Bizarr-Kritik-Fokus von Mouatasem Alrifai gerückt ist dagegen Weltstar Justin Timberlake. Der via Casting-Boygroup N*Sync bekannt gewordene Ex-Lover von Britney Spears ist diese Woche in eine karriererelevante Abseitsposition gesprintet.

Nach einem offenbar feuchtfröhlichen Abend vergass er während der Heimreise für einen Moment den Leitsatz "Don't drink and drive" und liess sich augenscheinlich volltrunken von einer Polizeistreife anhalten. Vermutlich, um weiteren Schaden abzuwenden, verweigerte Timberlake mehrfach den geforderten Ankohltest. Im promillefahrtsensiblen Bundesstaat New York kommt das selten gut und führt zumeist zu einer Festnahme.

Gossipspektakulär feingeistig existieren nun also einige offizielle Mug-Shots des einstmals als neuer Michael Jackson gefeierten ehemaligen Jungstars, dessen Alkohol-Eskapaden nach eigener ad hoc Einschätzung "wohl die World Tour kosten wird".

Dieser Wochenrückblick, das verspreche ich als Justin Timberlake der Satirikerinnen, bleibt kostenfrei und kehrt bereits nächste Woche zurück. Bis dann!

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