Es gibt wenige Dinge, nach denen man in Deutschland zuverlässig die Uhr stellen kann. Die Deutsche Bahn zum Beispiel hat schon seit einigen Jahren das Konzept "Pünktlichkeit" im Alltagsbetrieb eingestellt. Das ehemals als "Unternehmen Zukunft" postulierte Transportfiasko auf Schienen ist durch viele Jahre mit einem Verkehrsministerium unter Unions-Führung zu einer Art internationaler Individualreise-Persiflage verkommen.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Inzwischen muss man sich ja durchaus berechtigt fragen, ob die fortlaufende Inthronisierung von Politiker-Attrappen wie Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt oder Andi Scheuer nicht möglicherweise der beste Marketing-Schachzug der Automobilindustrie aller Zeiten war. Kaum jemand hätte das Potenzial, so konsequent dynamisch, ausdauernd und kompromisslos dafür zu sorgen, dass es für beruflich Vielreisende in Deutschland mittlerweile erfolgversprechender ist, sich einfach in einem Schlauchboot auf dem Rhein, der Isar oder der Spree ziellos flussabwärts treiben zu lassen, als einen ICE der Deutschen Bahn zu besteigen, wenn man gerne möglichst pünktlich irgendwo ankommen würde.

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Aber auch der pseudohämische Frontalangriff auf Personen von öffentlicher Relevanz kommt immer sekundengenau in exakt jenem Moment, in dem irgendein durchideologisierter Angriffskrieger der Hass-Abteilung eines bestimmten Lagers einen vermeintlich unverzeihlichen oder mindestens absolut intelligenzabsprechenden Fehler dieser Person entdeckt.

So auch diese Woche wieder in quälend langer und beschämend unterkomplexer Art und Weise bei Diskursteilnehmern zu beobachten, die bei einem ärgerlichen, aber weitestgehend harmlosen Versprecher der News-Moderatorin Franca Lehfeldt einen Abgesang des Abendlandes nebst seiner journalistischen Integrität beschworen.

Ein Leh im Bettfeldt, das ist immer frei …

Aber was war passiert? Eben jene "Welt"-Moderatorin Lehfeldt hatte in einer Anmoderation zum Internationalen Holocaustgedenktag versehentlich davon gesprochen, "Heute vor 78 Jahren" hätte die "Rote-Armee-Fraktion die Überlebenden des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz befreit".

Gut, die Rote-Armee-Fraktion hatte mit der besagten Befreiung nichts zu tun. Lehfeldt hatte die Rote Armee gemeint, die Arbeiter- und Bauernarmee Sowjetrusslands und selbstredend nicht die später in Deutschland aktive RAF. Statt generös über diesen offensichtlichen Versprecher hinwegzusehen oder es zumindest bei ein wenig satirischer Kommentierung zu belassen, sprang die zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk funktionierende Hate-Maschinerie erst an.

Mit einer Verve, als hätte Lehfeldt gerade vor laufender Kamera dazu aufgerufen, Hans-Georg Maassen per Diktatur-Dekret zum neuen Reichskanzler zu ernennen, arbeiteten sich die Totengräber der Diskussionskultur an der jungen Journalistin ab. Digitaltonnen schlimmster Beleidigungen ergossen sich über Franca Lehfeldt, als würde man für jede Beleidigung an eine gutaussehende Frau mit eigener Karriere zehn Prozent weniger Heizkosten bezahlen müssen.

Heftige Attacken auf Franca Lehfeld

Warum es in dieser Heftigkeit ausgerechnet Frau Lehfeldt traf, ist nicht abschliessend feststellbar. Als Politik-Chefin einer aktuell etwas in verschwörungsmystisches Milieu abdriftenden Tageszeitung aus dem intellektuell ohnehin mit starker Schlagseite ins neue Geschäftsjahr taumelnden Axel-Springer-Verlag hat Lehfeldt bei dem Teil der Gesellschaft, der Freiheit nicht für den Titel eines Buches und den zweiten Vornamen von Anna Schneider hält, ohnehin pauschal schlechte Karten.

Hinzu kommt, dass sie sich kürzlich im Rahmen der erfolgreichen Casting-Show DSDL ("Deutschland sucht die Lindnergattin") bis in die Endrunde vorkämpfen konnte und dort dann im grossen Finale auf Sylt zur neuen Ehefrau von Finanzminister Christian "der Markt regelt das" Lindner gekürt wurde.

"Welt", Lindner, Freiheit – ein Agenda-Dreigestirn, mit dem man in der aktuellen Weltlage zwischen Klimawandel, Ukraine-Krieg und Corona bei etwa 95 Prozent der Menschen keinen Blumentopf gewinnen kann. Nicht mal einen mit Biozitronenbäumen – und die sind sogar Gelb und man kann daraus Limonade machen. Jedenfalls, wenn ein altes Sprichwort zutreffen sollte, das irgendwie damit zu tun hat, dass das Leben – vermutlich im übertragenen Sinne – nebenbei so eine Art Zitrusfrucht-Grosshandel am Laufen haben soll.

So oder so. Die zumeist deutlich unter der Gürtellinie operierenden Attacken auf Franca Lehfeldt sind zwar gleichsam so vorhersehbar wie inakzeptabel, davon unabhängig aber darüber hinaus leider auch an der Tagesordnung.

Die Frage, ob ein derartiger Versprecher nicht auch einem selbst unterlaufen könnte (zumal in einer hektischen Situation während einer Live-Nachrichtensendung), stellt sich heutzutage niemand mehr. Ein in seinen grundsätzlichen Ausrichtungen klar definiertes Feindbild gehört selbstverständlich zum guten Ton. Vergehensunabhängig bei jeder kleinsten sich ergebenden Gelegenheit mit der grösstmöglichen Wucht auf einen Protagonisten oder eine Protagonistin der vermeintlichen Gegenseite einzutrümmern, offenbar ebenfalls.

Hauptsache, die anderen!

Die Absurdität dieses Perpetuum Mobile des Echauffierens wird spätestens dann sehr schnell erkennbar, wenn man sich folgende Frage stellt: Was wäre passiert, wenn einer prominenten Journalistin des Öffentlichen Rundfunks derselbe Versprecher passiert wäre. Dunja Hayali etwa. Genau die Pulitzerpreis-Anwärter, die sich tagelang über die eine, versehentlich zusätzlich in Franca Lehfeldts Satz gerutschte Vokabel "Fraktion" empörten, hätten dann in meterlangen Abwiegelungs-Tweets verschiedene Doktorarbeiten dazu geschrieben, dass man ja wohl mal einen kleinen Fehler machen dürfe und wie ehrenrührig und peinlich es doch sei, darauf nun mit so einem grossen Furor zu reagieren. Und umgekehrt.

Viele von denen, die Franca Lehfeldt nun zur Seite springen, würden im Falle von Frau Hayali vermutlich die grenzenlose Verkommenheit und Inkompetenz des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks beschreien und nichts weniger fordern als die umgehende Abschaffung der Rundfunkgebühren (bei Querdenkern und NZZ-Lesern gerne "Zwangsabgabe" genannt).

"Ich bin ein Star, holt mich hier raus"

In welchem Meinungskorridor auch immer man jedenfalls gefangen ist: Die Art und Weise, wie in der Causa RAF mit Franca Lehfeldt umgesprungen wurde, sollte in allen Lagern diskussionslos als untragbar gesehen werden. Zumal es ja auch noch so viele andere Themen dieser Woche geben würde, denen man mit viel mehr Aufmerksamkeit begegnen sollte. Djamila Rowe beispielsweise ist Dschungel-Königin.

Sie erinnern sich vielleicht an die TV-Sendung "Ich bin ein Star, holt mich hier raus". Darin hocken zwölf zumeist nah an der Privatinsolvenzgrenze balancierende Ex-Promis in einem spärlich ausgerüsteten Camp im australischen Busch und werden so lange mit Ekelprüfungen und Schlafentzug penetriert, bis sie entweder intime Geheimnisse ausplaudern, die anschliessend genüsslich über den Boulevard der Peinlichkeiten zum Klatschmagazin-Markte getragen werden können, oder bis sie beginnen, einander so unflätig zu beleidigen, dass eine handelsübliche Staatsanwaltschaft darauf aufbauend etwa dreiundzwanzig Jahre in alle Richtungen prozessieren könnte.

Der Königin neue Kleider

Das oftmals auch mit #IBES abgekürzte Reality-TV-Format gastierte dieses Jahr – auch danach kann man die oben schon erwähnte Uhr stellen – erneut im Januar auf einer australischen Buschlichtung in unmittelbarer Nähe eines Baumhauses. Am Sonntag war es dann endlich so weit. Twitter-Wunschkandidatin Djamila Rowe, die Kandidatin der Herzen, stach Konkurrentinnen wie Claudia Effenberg, Verena Kerth oder Mitstreiter wie den als "Callcenter Cordalis" in die Annalen des Dschungels eingehenden Lucas Cordalis und Catwalk-Dramaqueen Papis Loveday aus und sicherte sich den Dschungelthron für das Jahr 2023.

Das hätte man prominent feiern können. In Deutschland scheint es jedoch deutlich mehr en vogue zu sein, bei potenziellen Meinungsgegnern Fehler zu konstruieren, als bei erfreulichen Erfolgen von Herzen Glückwünsche zu verteilen. Schade.

Lucas Cordalis über Djamila-Heim-Aussage: "Glaube nicht, dass ich das bereuen muss"

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