Schon wieder eine Woche vorüber. Kinder, wie die Zeit vergeht. Kaum erholt von Jan Josef Liefers hollywoodreifen Versuch, in wirklich jeder Talkshow des Landes seine audiovisuelle #allesdichtmachen Kunstinstallation aus dem Dunstkreis der Querdenker-Subkultur rauszulamentieren, schieben sich bereits die nächsten Vorzeigeprominenten mit einigen verunglückten Beiträgen zur Völkerverständigung in die Schlagzeilen.

Marie von den Benken
Eine Satire
Diese Satire stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Für die Revoluzzer-Truppe um Liefers, der die sehr guten Einschaltquoten eines "Tatort" umgehend zu einer Art Volksentscheid pro #allesdichtmachen hoch interpretierte, gerade rechtzeitig. Während ihm nämlich im Schatten der Feststellung, das "L" in Liefers stehe für "Hybris", sein Satiriker-Kollege Volker Bruch mit dem Eintritt in die Partei "Die Basis" ordentlich in die "mit Covid-Leugnern haben wir nichts zu tun"-Parade gefahren ist, rissen drei der ganz grossen deutschen Philosophen die Shitstorm-Schlagzeilen beherzt an sich.

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Die Drei ??? und der Grundkurs Philosophie

Jens Lehmann, der Immanuel Kant der Ex-Torhüter etwa, schickte seinen Beitrag zur Rassismus-Bekämpfung statt an seinen Kontakt beim TV-Sender Sky versehentlich an Dennis Aogo, den Ex-Nationalspieler. Lehmann formulierte eine Frage, die sich (jedenfalls für seine Wahrnehmung) nahtlos einzureihen schien in den Reigen der Fragen, die es zu beantworten gilt, wenn man die Welt und die menschliche Existenz ergründen, deuten und verstehen möchte. Lehmanns Vorgänger wie Platon, Aristoteles, Sokrates, Thomas von Aquin, Schopenhauer, Hegel, Descartes, Nietzsche, Heidegger oder Wittgenstein fragten sich Dinge wie:

  • Was ist Wahrheit?
  • Was ist Moralität?
  • Was ist der Sinn des Lebens?
  • Woher weiss ich, was ich weiss?
  • Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
  • Gibt es einen Gott? Was bin ich?
  • Bin ich wirklich frei?
  • Ist eine gerechte Welt möglich?

Lehmann, an den sich frühere Mitspieler wie Karsten Baumann meist sehr liebevoll erinnern ("Du warst schon damals ein Vollidiot"), gelang es nun nach jahrelangen Recherchen auf den Fussballplätzen dieser Welt, diesen elementaren Fragen eine weitere hinzuzufügen: "Ist Dennis euer Quotenschwarzer?" Unverständlich daher, dass sich anschliessend Empörungswellen über dem Ozean der Meinungsfreiheit bildeten, die schliesslich in einem Tsunami von Vertragsauflösungen mündeten. Job bei Hertha BSC weg, Job bei Sky weg, Job bei Laureus weg.

Lehmann Brothers

In finanzielle Schwierigkeiten wird das dem mehrfachen Fussball-Millionär Lehmann vermutlich nicht bringen, zumal er für seinen bodenständigen Lifestyle bekannt ist. Während seiner Zeit beim VfB Stuttgart etwa soll er sich regelmässig mit dem Hubschrauber zum Training gebracht haben lassen. Eine gewisse Eitelkeit wird Lehmann allerdings unterstellt und so wird ihn die Kaltstellung als gern gesehener Gast in diversen TV-Sendungen vermutlich härter treffen als der wirtschaftliche Verlust. Dass er monetäre Verluste wegstecken kann, hat er ja vor einigen Jahren bereits eindrucksvoll im ganz grossen Stil bewiesen, als er sein Bankhaus "Lehmann Brothers" an die Wand gefahren hatte.

So war sein Alltagsrassismus-Fauxpas zwar aus Karrieresicht etwa so hilfreich wie der tägliche Verzehr von 10 Kilo Schweinemett aus Tönnies-Wurstfabriken zur Vermeidung von Herzinfarkten. Dennoch stehen ihm trotz #Quotengate noch viele Türen offen. Als Duettpartner von Mario Barth etwa. Die Nummer "Kennta? Kennta? Cancel Culture!" aus ihrem gemeinsamen Programm "Rassismus ist doof, Jens Lehmann aber auch" zum Beispiel könnte ihn sehr schnell wieder zurück auf die grossen Bühnen der TV-Unterhaltung katapultieren. Wie popularitätsfördernd ein Cancel-Culture-Shitstorm sein kann, zeigten zuletzt die Fälle Dieter Nuhr oder Lisa Eckhart. Beide galten wochenlang im Meinungskonsens der Haltungspolizisten auf Twitter als weitestgehend untragbar und wurden entsprechend konsequent abgeurteilt. Reichweite, Bedeutung, TV-Auftritte und Einnahmen stiegen derweil proportional zum Empörungslevel.

Die Aussichten für Jens Lehmann sind also besser, als man es aktuell vielleicht vermuten könnte. Ausserdem kommt strafmildernd hinzu: Lehmann ist Fussballer gewesen und nicht Einstein. Also muss man dem Adorno des Ballsports zugutehalten: Zwischen Studium und Stadion ist sprachlich betrachtet kaum ein Unterschied erkennbar.

Wake Me Up Before You Aogo

Um sich mit Lehmann solidarisch zu zeigen, nutzte Aogo nur einen Tag später in vollkommen anderem Zusammenhang die ebenfalls kontroverse Vokabel "vergasen" im Zusammenhang mit dem intensiven Training von Sportlern. "Vergasen" erinnert an das vermutlich grösste Verbrechen der Menschheit und reisst Wunden auf, zu deren Verheilung jeder von uns aufgefordert wäre. Nun könnte man darüber diskutieren, ob die Formulierung "vergasen" wirklich ein so unnachgiebiges Reagieren und die Zuordnung zu einem antisemitischen Kontext notwendig mache. Aber zum einen finde ich persönlich: ja, macht es. Und unabhängig davon zum anderen: Würde es irgendwem wehtun, stattdessen zum Beispiel von "trainieren bis zum Umfallen" oder "bis zur völligen Erschöpfung" zu sprechen? Gehört es nicht in den Horizont der Vernunft, Dinge zu unterlassen, die jemand anderem schaden könnten? Oder ein schlechtes Gefühl geben? Oder Erinnerungen an grausame Erlebnisse oder Geschichten hervorrufen?

Ironie des Schicksals: Sowohl Lehmann als auch Aogo waren mal Nationalspieler und SKY-Experten – und beide sind es jetzt nicht mehr. Definitiv kein Nationalspieler (und solange der Münchner Pay-TV-Sender nicht damit beginnt, Kommunalwahlkämpfe live zu übertagen mit Sicherheit auch kein SKY-Experte) ist dagegen Boris Palmer. Der stets um versöhnenden Diskurs bemühte Bahn-Kritiker Palmer nutzte die Diskussion um Aogo und Lehmann dennoch, um endlich seine langjährige Scheu vor publikumswirksamen Auftritten in den Medien abzulegen. Anders als viele andere Regionalpolitiker, die sich oftmals als Talkgast von Markus Lanz geeigneter und unersetzlicher vorkommen als in ihrer ursprünglichen Rolle als Oberbürgermeister, vermeidet der streitallergische Palmer ja seit Jahren eisern das Licht der Öffentlichkeit.

Was maasst sich Boris Palmer an?

Im Rahmen der Lehmann/Aogo-Kontroverse scheint aber sogar dem Versöhnungsexperten aus Tübingen die Co2-neutrale Hutschnur geplatzt zu sein. Und da offensichtlich gerade keine Studenten in der Nähe waren, denen man qua Dienstausweis der Ortspolizeibehörde den Bad Cop vorspielen kann, bemühte er in seiner Reaktion auf die Causa Lehmann/Aogo das (leider) berühmte N-Wort, mit dem das grenzenlos hohe Niveau eines Diskurses stets sehr einfach dokumentiert werden kann. Gerade in der Kombination mit einem Synonym für das männliche Geschlechtsorgan, das Palmer für seine Systemkritik am Umgang mit Rassismus und Antisemitismus nutzte, eine mit "unterirdisch" noch übersteigert freundlich bewertete Vorgehensweise.

Zum Glück für den Jan Josef Liefers der Lokalpolitiker folgt auf Kritik an rassistischen und antisemitischen Aussagen stets eine breite Welle der Sympathie-Bekundungen von ganz Rechts, der pseudoliberalen Kompetenzelite und jungen FDP-Mitgliedern, die sich für die Reinkarnation von Theodor Heuss halten, nur halt mit Twitter-Account. Die Einschränkungen, die Palmer zu befürchten hat, sind also überschaubar. Das angeleierte Parteiausschlussverfahren ist nicht sonderlich einfach durchsetzbar und Palmers Rekordversuch, als erster Bürgermeister mehr TV-Auftritte zu absolvieren, als es Einwohner in seiner Stadt gibt, scheint daher ungefährdet. Tübingen hat aktuell ca. 90.000 Einwohner, Palmer sollte also mit diesem Ansinnen Ende des Jahres durch sein.

Ansonsten gab es diese Woche noch Neues von der CDU-Studie "Mit Rechten nicht nur reden, sondern sie auch zur Bundestagswahl aufstellen", in der erfolgreich nachgewiesen werden konnte, dass alternde Wessis aus Mönchengladbach nach spektakulär beendeter Karriere beim Verfassungsschutz immer noch aus der neuen Wahlteilzeitheimat Thüringen heraus der ungeliebten Hauspartei auf den Sack gehen kann. Eine Woche geht aber auch schneller vorbei als Jens Spahn "Impfangebot" sagen kann. Mal sehen, was die kommende bereithält. Wir lesen uns am Montag!

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