Silvester. Traditionell ein schwieriges Pflaster für rationale Entscheidungen. Der Mensch neigt zu einem post-weihnachtlichen Self-Body-Shaming, der die pünktlich zum 27. Dezember ohnehin parat stehende Jahresend-Melancholie zusätzlich auf die Personenwaage expandiert. Es wird gegrübelt, man lässt die vergangenen Monate Revue passieren und nimmt sich ganz viel vor.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Zumeist Dinge, von denen man bereits lange vor der nachweihnachtlichen reflektorischen Selbst-Bilanzierung wusste, dass sie sehr wichtig wären. Zu denen man sich aber nie aufraffen konnte. Oder, na ja: wollte. In meinem Fall etwa nachts betrunken WhatsApp zu schreiben oder drei Tüten Chips als Healthy-Food zu kategorisieren.

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Bei anderen sind es schwerwiegendere Defekte, die korrigiert werden möchten. Selbsternannte Freiheits-Journalisten beispielsweise würden sich sicher gerne endlich in eine Entziehungskur begeben. Eine Betty-Ford-Klinik für überholte Ideologien. Ein Ort der Ruhe und intellektuellen Reichweitenvergrösserung, an der ihnen die Sucht danach genommen wird, ihrer verbliebenen Querdenker-Restleserschaft täglich immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen: Linksgrün ist doof. Drosten, Habeck, Baerbock, Scholz, Transrechte und Faeser sind auch doof. Verbote sind doof.

Ausser jetzt natürlich ein Verbot des Öffentlichen Rundfunks, ein Verbot der "Letzten Generation", insgesamt ein Demo-Verbot für Klima-Aktivisten oder ein Gender-Verbot. Aber fast alle anderen Verbote: doof! Im Prinzip ist alles doof, was mich daran hindert, der grösste Egoist auf dem Planeten zu sein. Das Leben ist doch so schön. Vor allem, wenn man finanziell keine Sorgen hat. Und wer keine materielle Komplettabsicherung hat, der hat eben in seinem Berufsleben dumme Entscheidungen getroffen oder sollte einfach mal härter arbeiten. Der Markt, Freunde der Freiheit, der regelt das. Denn Freiheit beginnt bei der Frage: Bleibst du Tellerwäscher oder hast du das Potenzial zum Millionär?

Böllern für die Freiheit

Nun ist 2022 ein recht komplexes Jahr gewesen. Kaum gestartet, überfiel Putin in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg die Ukraine. Das teilte Deutschland in vernunftbasierte Diskursteilnehmer und Fans von Richard David Precht. Ähnlich wie schon bei Corona. Da wurden wir ja – das weiss jeder, der nicht "Karl Lauterbach Forever" auf dem Steissbein tätowiert hat – beinahe drei Jahre lang in ein neues diktatorisches 1933 geführt. Grüsse an dieser Stelle an alle eifrigen Listen- oder Reply-Schreiber, die sich wie Rosa Parks fühlen, weil sie mal während der Maskenpflicht ohne Mundschutz mit der S-Bahn gefahren sind.

Krieg vor der Haustür, die Streitfrage nach schweren Waffen für die Ukraine, Energiepreisexplosion, Tankrabatt-Fiasko, immer noch Corona, nur drei Monate 9-Euro-Ticket, wachsende Gefahr des terroristischen Rechtsextremismus, "Reichsbürger"-Putschpläne. Und dann provoziert ÖRR-Multimillionär Jan Böhmermann auch noch mit einem satirischen Fahndungsplakat.

Satire im Fernsehen, das hat es früher nicht gegeben. Kein Wunder, dass das Land in intellektuellen Trümmern liegt. In diese schwierige, streitsensible Grundstimmung fällt nun also der Jahreswechsel. Ein Katalysator für den Kulturkampf, ob Freiheit zum Beispiel bedeutet, die Welt für unsere Kinder halbwegs bewohnbar zu erhalten. Oder ob Freiheit nicht doch eher meint, man solle Fleisch aus Massentierhaltung konsumieren, bis Atherosklerose auch das letzte Herzkranzgefäss verengt und verkalkt hat.

Wie etwa bei Massentierhaltung, Klimapolitik, Tempolimit oder Erbschaftssteuer gibt es wissenschaftlich und empirisch kein ernsthaft brauchbares Gegenargument, aber das spielt für echte Fans von "Der Markt regelt das"-Politikern und ihrer speichelleckenden Begleit-Journaille keine Rolle. Schnell herrscht Einigkeit: Warum sollte man auf Silvester-Böllerei verzichten? Nur, weil es der Umwelt schadet, Tiere quält, Einsatzkräfte an den Rand der Erschöpfung bringt, Millionen an Zerstörungen verursacht, Kriegsflüchtlinge traumatisiert oder das ohnehin angeschlagene Gesundheitssystem mit unnötigen Verletzungen flutet?

Ha – wo bliebe denn da die Freiheit? Das ist doch alles linksgrüner Verbots-Wahnsinn von freiheitshassenden Öko-Akademikern. Da kaufe ich doch gleich aus Prinzip für drei Monatsgehälter ganze Lkw-Ladungen Feuerwerkskörper und lache dem Juste Milieu überlegen in die spassbefreite Cancel-Culture-Fresse. Gut, kurz danach investiere ich dann wieder meine gesamte Tagesfreizeit in Kommentarspalten-Brechdurchfall, indem ich das Internet mit unflätigen Beleidigungen gegen Politiker pflastere.

Zu Recht, denn man kann sich ja mittlerweile diese unverschämten Gaspreise nun wirklich nicht mehr leisten! Die Regierung gehört vor Gericht gestellt! Die traurige Ironie dabei erkenne ich nicht. Die ist aber auch nicht einfach zu erkennen, wenn ich als einzige Meinungsquelle die Leitartikel der Chefreporter-Brigade der "Welt" heranziehe – und selbst da nur die Clickbait-Überschriften lese.

Freiheit beginnt in der Notaufnahme

Darum hämmere ich tapfer weiter auf mein Keyboard ein. Ehrensache als Jeanne d'Arc der Pyro-Philosophen. Unermüdlich schreibe ich gegen alles an, was mir meine Freiheit auf kompromisslos exzessiven Egoismus nehmen will. Unter jedem Tweet, der das Böllern kritisiert oder härtere Massnahmen gegen den Klimawandel fordert zum Beispiel – da findet man meine unverblümte Meinung. Tausendfach reinkopiert und wahllos weggeschickt. Inklusive aller Grammatik-, Rechtschreib- und Interpunktionsfehler.

Also, jedenfalls wenn ich zum Schreiben noch genug Finger habe. Fast bekommt man nämlich den Eindruck, für die Edelfedern der Abteilung Freiheits-Deformation ist man erst dann wirklich im liberalen Olymp angekommen, wenn man sich beim anti-woken Power-Böllern in der Silvesternacht mindestens einen Unterarm weggesprengt hat.

Dann gäbe es vielleicht sogar ein Freiheits-Fleisskärtchen von Ulf Poschardt oder wenigstens von Anna Schneider, denn ein bisschen weh sollte der Klassenkampf gegen die Totengräber der einzig wahren Ich-Freiheit durchaus mal tun. Da darf man nicht nachlässig werden. Oder sogar (Gott – also Wolfgang Kubicki – bewahre) versehentlich anfangen, sich in einem schwachen Moment hin und wieder Gedanken über jemand anderen als sich selbst zu machen.

Nein, auf keinen Fall. Lieber spielt man weiter konzentriert mit beim Freiheits-Ringelpiez mit Anfassen. Also, Anfassen nicht im sexualisierten Sinne, sondern im Sinne von: Immer gleich ganz angefasst zu sein, wenn Diskursteilnehmer mit mehr als dem Abschluss der "Michael Wendler Telegram Fernuniversität" die eigene Doppelmoral aufdecken.

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Die Superhelden des Solipsismus

Mal etwas Anekdotisches dazu. Ich wurde als Model entdeckt, als ich 14 Jahre alt war. Ich arbeite seither unter anderem auch in einer Branche, in der es primär um Oberflächlichkeiten geht. Ich habe Erfahrungen mit Neid, Missgunst, toxischer Männlichkeit oder MeToo-Situationen gemacht, lange bevor ich Alkohol kaufen durfte. Ich habe aber nie etwas Fragileres und gleichzeitig unangenehm Selbstgerechtes erlebt, als die vom eigenen Ich dauerbesoffenen Sofa-Sophie-Scholls, die immer direkt in ihren Einschnapp-Modus eskalieren, wenn sie mal von ihrer eigenen Medizin kosten müssen.

Oder wenn sie entsetzt feststellen, dass Deutschland doch nicht nur aus rechtslastigen Like-Bots auf Twitter besteht und es tatsächlich Menschen gibt, die eine reaktionäre Freiheits-Egomanie identifizieren können. Und auch die damit bei "Journalisten" offenbar per Serienausstattung einhergehende Manie, keinen Tag ohne das Verfassen narzisstischer Texte von schmerzhaft unkreativer Qualität vergehen zu lassen. In denen wird dann ritualisiert auf anstrengend wortreiche, aber dafür wenigstens inhaltsleere Art erläutert, warum Freiheit nur eine andere Vokabel für Autophilie ist.

Die Quittung kommt postwendend. Plötzlich steht man zum Jahresende mit heruntergelassenen Hosen da. Sogar ganz ohne Greta Thunberg und ihre legendäre "Smalldickenergy". Sich nachhaltig zu disqualifizieren, das bekommen die Superhelden des Solipsismus (anders als beispielsweise einen funktionierenden News-TV-Sender) mit ihrer Freedom-Leichtigkeit im Handumdrehen selbst hin. So hat ihr aufopferungsvoller Kampf darum, den Freiheitsbegriff so trivial, zentrovertiert und propagandaübersäuert wie nur irgendwie möglich zu positionieren, nun unweigerlich dazu geführt, dass "Freiheit" offiziell zur "Floskel des Jahres 2022" gewählt wurde.

Man muss ihnen demnach eines lassen, in ihren reichweitenbröckelnden Elfenbeintürmen der rechtspopulistischen Neuorientierung: Sich Fremdscham-Rekorde brechend blamieren können beide gleich gut, aber anders als die deutsche Nationalmannschaft hat die autoerotisierte Freiheits-Bourgeoise immerhin einen Titel souverän nach Hause geholt: Weltmeister der Banalisierung. Und das ganz ohne "One Love"-Binde. Und erst recht nicht mit Mundzuhalten. Warum auch?

Nicht kommunizieren heisst auf Deutungshoheitsoptionen zu verzichten. Dass sich da mal jemand eine Kolumne lieber verkneift, so viel Glück hatten wir dieses Jahr folglich nicht. Da kann man sich doch nur freuen! Auf das neue Jahr (viel Glück dafür – und vor allem viel Gesundheit!). Und natürlich darauf, ob die Jahrgangsbesten der Ego-Akademie ihren Titel 2023 verteidigen können. Ich bin gespannt!

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