Seit rund 15 Jahren ermitteln Felix Klare und Richy Müller im Stuttgarter "Tatort" Seite an Seite. So wie die fiktiven Kommissare Bootz und Lannert sind auch die beiden Schauspieler "unterschiedliche Menschen", wie Klare im Interview mit unserer Redaktion erklärt. Ausführlich widmet sich der 45-Jährige einem Thema, das uns alle angeht und mit dem er in dem neuen ZDF-Film "Wir haben einen Deal" (Montag, 20:15 Uhr) konfrontiert wird: sexueller Missbrauch von Kindern.
Herr Klare, Sie spielen in dem ZDF-Film "Wir haben einen Deal" mit. Der Titel klingt nach grossem Business – doch der Schein trügt. Es geht eher um einen Pakt mit dem Teufel, richtig?
Der Fussball-Trainer Klaus Wille wird von Peter Lohmeyer gespielt, während Sie die Rolle des inzwischen erwachsenen Missbrauchsopfers übernommen haben. Dieser Frank Lechner wird in dem Film mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Wie nah ist die fiktive Geschichte an der Realität?
Einen solchen Deal kann man eigentlich bei jedem Sexualstraftäter finden. Ob in einem Sportverein oder im familiären Umfeld: Es wird immer eine Abhängigkeit oder eine Angstneurose geschaffen, damit der Betroffene nichts preisgeben und der Täter seinen Verbrechen weiter nachgehen kann.
Klare über Kindesmissbrauch: "Gehe davon aus, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist"
Wie hoch ist vermutlich die Dunkelziffer, was sexuellen Missbrauch insbesondere in Sportvereinen angeht?
Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist. Und es ist ein Armutszeugnis für uns alle, dass so etwas nach wie vor in diesem Ausmass stattfindet. Das zeigt, dass noch gar nicht viel passiert ist. Und warum ist das so? Weil damit kein Geld zu verdienen ist. In unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft ist es – rein wirtschaftlich gedacht – offenbar nicht kompatibel genug, sich Kindern zuzuwenden. Es wird einfach nicht hingeschaut. Wir alle sind gefordert, unseren Teil dazu beizutragen, damit sich etwas verändert.
Wird in Deutschland allgemein zu wenig für das Wohl des Kindes getan?
Ich empfinde das so, ja. Die Pisa-Studien sind nach wie vor schlecht. Dennoch wird weiterhin ganz wenig in Bildung investiert. Dieses Thema wird immer wieder gross auf die Wahlplakate geschrieben, doch am Ende passiert so gut wie gar nichts. In den skandinavischen Ländern wird hingegen viel mehr für Kinder getan. Und ich bin davon überzeugt, dass sich dieses Engagement eines Tages auszahlen wird.
In welchen Bereichen wünschen Sie sich vor allem mehr Unterstützung?
Mein Eindruck als Vater von vier Kindern, die zwischen acht und 20 Jahre alt sind, ist, dass man viel allein gelassen wird – angefangen mit dem Thema Internet, das nahezu komplett den Eltern überlassen wird. Ich sehe auf vielen Ebenen dringenden Handlungsbedarf.
Wie schwer ist es Ihnen emotional gefallen, sich intensiv mit dem Thema Kindesmissbrauch und letztlich mit Ihrer Rolle auseinanderzusetzen?
Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der gerne gefordert wird. Nur so kann ich mich ständig weiterentwickeln. Natürlich handelt es sich hierbei um eine sehr herausfordernde Rolle, auch wenn ich persönlich zum Glück nie Opfer eines Missbrauchs wurde.
Was entgegnen Sie denjenigen, die der Meinung sind, dass man eine Rolle nur glaubhaft ausfüllen kann, wenn man das in dem Film Dargestellte selbst erlebt hat – nicht nur auf das Thema Missbrauch bezogen?
Ich weiss, dass sich manche TV-Sender und Streamingdienste tatsächlich auf die Fahne schreiben, zum Beispiel homosexuelle Rollen nur mit Homosexuellen zu besetzen. Ich sehe das aber komplett anders. Die Essenz des Schauspiels ist es doch, dass man etwas ganz anderes von sich zutage bringt. Ich finde es sehr gut, dass wir unsere Geschichte aus der Opfer-Perspektive erzählen. Das ist relativ selten der Fall. Dennoch hatte ich im Vorfeld Respekt davor, mich der Rolle zu nähern. Denn wer bin ich, der so etwas nie erlebt hat und es dann einfach mal eben so aus dem Ärmel schüttelt? Ich habe diese grosse Verantwortung auf jeden Fall gespürt.
Klare fordert mehr Prävention
Wie denken Sie über die Täter?
Bei aller Moral – und auch, wenn der Film das gar nicht aufgreift –, möchte ich doch einen kleinen Wink in die andere Richtung setzen. Ich würde mir wünschen, dass wir über Menschen, die durch Neigungen zu Tätern werden könnten, ein bisschen intensiver nachdenken und der Prävention mehr Bedeutung beimessen – etwa in Form von Beratungsstellen. Natürlich ist es erst einmal die beste Lösung, Sexualstraftäter wegzusperren. Doch wie nachhaltig ist diese Lösung, wenn wir dieses Thema in eine kleine, dunkle Ecke schieben? Nur wenn wir als Gesellschaft hingucken und Dinge klar benennen, können wir etwas verändern.
Haben Sie im Vorfeld auch mit Missbrauchsopfern sprechen können, um sich dem Thema zu nähern?
Es war sehr schwer, überhaupt jemanden zu finden, der Ähnliches erlebt hat. Sogar die Produktion hat niemanden ausfindig machen können. Auch das zeigt, wie viel Angst in diesem Thema steckt. Ich habe dann tatsächlich einen Schauspielerkollegen kontaktieren können, der Missbrauch erlebt hat – allerdings nicht ansatzweise in der Dramatik, wie sie im Film dargestellt wird. Er konnte mir aber sehr viel darüber erzählen – und das war sehr wichtig für mich. So habe ich erkannt, dass es im Prinzip um zwei Gefühlswelten geht, mit denen sich niemand gerne auseinandersetzt, die aber jeder kennt: Schuld und Scham. Genau da habe ich angesetzt.
Ist das eigentlich Perfide an sexuellem Missbrauch, dass sich letztendlich die Opfer schuldig fühlen?
Ja, und vor allem Kinder fühlen sich sehr schnell schuldig. Kommt es zum Beispiel zu einem Streit zwischen den Eltern, denken Kinder häufig, dass sie schuld daran sind. So etwas geht ungefiltert in die Seele eines Kindes hinein und bleibt dort ganz lange und tief sitzen. Das ist das Problem. Hinzu kommt, dass – wie in dem Film geschehen – ein "Deal", also ein "Vertrag", gemacht wurde. Wer sich nicht daran hält, trägt demnach eine Mitschuld. Aber: Ein Kind kann noch keine Verantwortung tragen. Es wird jedoch suggeriert, dass es diese Verantwortung tragen muss. Selbst wenn man irgendwann im Erwachsenenalter rational darüber urteilen kann, ist das Trauma dadurch noch lange nicht bearbeitet. Es handelt sich um einen langen Prozess.
Als Vater von vier Kindern erleben Sie die Sorgen, die sich Eltern immer machen, vermutlich täglich am eigenen Leib. Wie sehr sorgen Sie sich mit Blick auf den Klimawandel um die Zukunft unserer Kinder und welchen Beitrag zum Umweltschutz leisten Sie?
Ich bin im Allgemeinen so aufgewachsen, dass ich versuche, mit der Natur zu leben – und nicht gegen sie. Ein grosses Problem habe ich mit der Digitalisierung. Ich kann nicht nachvollziehen, inwiefern Digitalisierung gut für das Klima sein soll. Das eine ist die Natur, das andere ist das Künstliche. Für mich passt das überhaupt nicht zusammen. Vordergründig geht es mir aber darum, dass jeder auf sich selber achtet – denn dann hätten wir diese Probleme nicht. Es gibt aber leider wahnsinnig viele Bedürfnisse von Menschen, die erfüllt werden wollen.
Haben Sie das Urvertrauen in Menschen über die Klimadebatte hinaus verloren? Würden Sie Ihre Kinder heute noch in einem Fussballverein oder beim Musikunterricht anmelden – nach dem, was Sie im Rahmen Ihrer Arbeit an "Wir haben einen Deal" erfahren haben?
Ich würde hier gerne den Bogen zu meiner Antwort auf Ihre vorherige Frage schlagen. Ich versuche zunächst einmal, auf mich zu achten. Das schliesst ein, dass ich auch auf meine Kinder und mein näheres Umfeld achte. Mir ist es wichtig, nah am Leben dran zu sein, den Bezug nie zu verlieren. Wenn ich meine Kinder also in einem Verein anmelde, dann bedeutet das nicht, dass ich sie dort einfach nur abgebe. Ich schaue mir an, wer den Verein führt und trete mit den Trainern in Kontakt, um ein Feingefühl entwickeln zu können. Auf diese Weise spürt auch der andere, mit dem ich ins Gespräch gegangen bin, dass ich ein Auge drauf habe.
Haben Sie den Eindruck, dass diese Vorgehensweise Früchte getragen hat bzw. immer noch trägt?
Zumindest behaupte ich, dass es mir gelungen ist, meine Kinder so zu erziehen, dass sie auch mal den Mund aufmachen. Dass sie in der Lage sind, Nein zu sagen und Grenzen zu ziehen. Aus meiner Sicht ist das die beste Prävention.
Klare über MeToo: "Generell ist es für mich richtig und gut, dass dieses Kapitel aufgemacht wurde"
Vermeintliche Vertrauenspersonen, die ihre Macht ausnutzen, gibt es nicht nur in Fussball-Vereinen, sondern auch in der Filmbranche. Wie bewerten Sie die MeToo-Bewegung? Hat sich etwas verändert?
Generell ist es für mich richtig und gut, dass dieses Kapitel aufgemacht wurde. Das gilt im Übrigen auch für die Gender-Debatte, Rassismus oder allgemein für die Ausgrenzung von Randgruppen. Ich habe dabei immer dieses Bild von einem Keller im Kopf, der jahrelang im Dunkeln vor sich hin moderte und endlich ausgeräumt wird. Trotzdem halte ich es für schwierig, wenn man sich nur noch in diesem Keller bewegt. Mein Gefühl ist, dass das Pendel aktuell zu stark ausschlägt. Und das führt zu diesem extremen Aufbegehren, das wir momentan spüren.
Was würden Sie empfehlen?
Vielleicht sollte man sich mit dem einen oder anderen Insta-Post nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich wünsche mir, dass sich alles mal wieder ein wenig entspannt.
So geht es im "Tatort" weiter
Lassen Sie uns auf den "Tatort" zu sprechen kommen. Sie sind bereits seit 15 Jahren an der Seite von
Interessant, das wusste ich gar nicht. Für mich gilt: Solange ich nicht nur darüber definiert werde, kann ich das auch weiter machen. Natürlich bin ich aber Schauspieler geworden, um unterschiedliche Rollen spielen zu können. Insofern ist es ein Geschenk, in Filmen wie "Wir haben einen Deal" oder "Weil du mir gehörst" mitzuwirken. In der Serie "Schneller als die Angst" durfte ich einen Serienkiller verkörpern und eine ganze andere Seite zeigen. Ich versuche bewusst, mir andere prägnante Rollen zu suchen, um auch gerne weiterhin Teil des "Tatorts" sein zu können. Ich bin sehr dankbar für diese Konstante in meinem Berufsleben. Der "Tatort" gibt mir zudem den gewissen Luxus, nicht alles machen zu müssen. Es gibt nämlich viel Quark, der in der Glotze läuft (lacht).
Harmonieren Sie persönlich mit Richy Müller noch genauso gut wie damals vor rund 15 Jahren?
Im Kern auf jeden Fall. Wir sind dennoch unterschiedliche Schauspieler und Menschen, die mitunter auch Differenzen haben. Es kann schonmal zu einem verbalen Schlagabtausch kommen, wenn wir aufeinandertreffen. Aber es lebt – und das ist die Essenz. Wichtig ist, dass es nie langweilig wird.
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