Sind wir Deutschen rührselig oder heulen wir nur gerne ein bisschen in der Öffentlichkeit rum? Vor allem dann, wenn sich verdiente Sportler und grosse Künstler, VIPs und VUPs aus der Öffentlichkeit verabschieden? Man könnte es fast glauben, wenn man die Verabschiedungen der letzten Zeit Revue passieren lässt.

Eine Kolumne
von Christian Schommers
Diese Kolumne stellt die Sicht von Christian Schommers dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Schweinsteiger weint bei seinem letzten Länderspiel, die Fans mit. Edona James hatte Pipi in den Augen, nur weil’s im Promi-Container nach ehrlichem Schweiss gestunken hat. Als die SPD-Dame Petra Hinz mit dem Felix-Krull-Gen abtrat, heulte keiner. Poldi – bei dem weiss es keiner so genau. Der hat bestimmt sein zähnefletschendes Poldi-Grinsen aufgesetzt und einen coolen Spruch rausgehauen. Dennoch: Die Nation ist nah am Wasser gebaut.

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Das letzte Konzert

Wenn diese These stimmt, dann hatten 30.000 Menschen am vergangenen Samstag im RheinEnergie-Stadion Gelegenheit für kollektives Tränenvergiessen. Denn der Graf und seine Band Unheilig gaben in Köln ihr wirklich letztes Konzert. Und gerührt waren sie auf und vor der Bühne. "Wir wissen, dass das, was wir in den letzten Jahren erleben durften, nicht normal ist – dieser Applaus, diese grossen Mengen von Menschen", rief der Graf und sichtlich gerührt fuhr er fort: "Es war uns eine Ehre, für euch Musik zu machen".

Über Privates weiss man wenig

Abzudanken vor dem eigentlichen Ende scheint in Mode gekommen zu sein. Selbst Papst Benedetto zog sich zurück, um wieder Bücher lesen zu können. Der Graf, über den man privat recht wenig weiss – weder Geburtsdatum noch Geburtsort sind richtig verbrieft, manche sagen er ist 46 und gebürtig aus Aachen – war im früheren Leben Zahntechniker, Zeitsoldat und Hörgeräteakustiker. Sein bürgerlicher Name soll Bernd Heinrich Graf lauten. Der Mann, der der Gothic-Szene entstammt und eine Mischung aus Dunkelrock und Deutsch-Pop salonfähig machte, hat schon 2014 das Ende angekündigt und dann anderthalb Jahre den langen Abschied zelebriert.

Die Daten und Fakten zum Phänomen Graf: Gründung von Unheilig 1999, fünf Millionen verkaufte Tonträger, die Farewell-Tournee begann 2015 und endete, wie gesagt, am Samstag in Köln. Der Mann mit dem voll dröhnenden Timbre (er soll früher heftig gestottert haben) stellte im Laufe seiner Karriere einige Rekorde auf. So mit dem Album von 2010, "Grosse Freiheit", das zehnfaches Platin in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhielt und Grönemeyers "Ö" als längstes auf Platz eins befindliches Album in den Media-Control-Charts ablöste. 23 Wochen nistete sich der Graf mit seinem Donner-Rock auf der Pole Position ein. Durchbruch auf ganzer Linie mit "Geboren um zu leben" im selben Jahr. Not bad!

Kein Rücktritt vom Rücktritt

Der stets adrett gekleidete Herr mit seinem Markenzeichen-Look (Gehrock, Glatze und eckiger Goatie) hatte, wie der Kölner Express berichtete, "Tränen in den Augen": "Wir wollen noch einmal nach den Sternen greifen", sang er (...) mit leicht erstickter Stimme ..."
All die markigen Hymnen und Markenzeichen-Songs gaben Graf und Unheilig zum besten, bevor der Frontmann, wie angekündigt, ins Privatleben emeritiert, um sich um seine Familie zu kümmern. "Es wird definitiv keinen Rücktritt vom Rücktritt geben", sagte er vorab in einem Interview. Der letzte Song war "Der Vorhang fällt". Passend! Ein allerletztes Album ist für den 4. November 2016 angekündigt: "Von Mensch zu Mensch". Ein grosser deutscher Künstler geht und reckt beide Daumen in die Höhe.  © top.de

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