Vielen ist sie bekannt als Ex-Ehefrau von Vitali Klitschko, Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Doch Natalia Yegorova sieht sich vor allem als eines: als Stimme für die Menschen, die keine haben. Seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf ihr Heimatland engagiert sich die 48-Jährige, die derzeit in Hamburg lebt, für geflüchtete Ukrainer und Ukrainerinnen. Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über ihre Motivation nach rund neun Monaten Krieg, ihre Kontakte in die Ukraine und Hoffnung auf Annäherung der beiden Länder. Dabei richtet sie ihre Kritik vor allem an die in Deutschland lebenden Russen.
Frau
Natalia Yegorova: Alles, was ich an Möglichkeiten habe, ist meine Stimme. Das ist meine Stärke. Ich habe versucht, in vielen Zeitungen und Fernsehsendungen Interviews zu geben, die Menschen immer und immer wieder auf den Krieg in der Ukraine aufmerksam zu machen. Aber man merkt, dass nach neun Monaten die Aufmerksamkeit langsam weniger wird. Deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen und ich weiterhin dranbleiben und unsere Stimme erheben. Das ist mein Hauptziel.
Welches Projekt steht bei Ihnen besonders im Fokus?
Ich bin unter anderem Patin bei der "Refugio Kunstwerkstatt" in München. Das ist nicht nur für geflüchtete Kinder aus der Ukraine. Die stehen aber dort derzeit wegen des Krieges besonders im Fokus. Dort können sie sich kreativ austoben und ihre Emotionen verarbeiten. Es gibt dort zwar auch viel psychologische Unterstützung, aber auch Hilfe in spielerischer Form. Kinder können hier einfach Kinder sein: spielen, basteln, singen, tanzen. Gerade als Künstlerin sehe ich in solchen Projekten grosses Potenzial.
Natalia Yegorova: "Kinder brauchen kein Mitleid"
In solchen Projekten arbeiten neben ausgebildeten Erziehern oder Psychologen auch viele ehrenamtliche Laien – ebenso wie in privaten Haushalten, die geflüchtete Ukrainer aufgenommen haben. Wie geht man als ungeschulte Person am besten auf vor Krieg geflüchtete Kindern zu?
Kinder sind so besondere Wesen auf dieser Erde. Alles, was sie brauchen, ist Liebe. Sie wollen spüren, dass sie mit offenen Händen und Herzen aufgenommen werden und nicht allein sind. Die brauchen kein Mitleid. Sie brauchen unsere Ohren, damit sie ihre Sorgen teilen und erzählen können, was ihnen auf dem Herzen liegt. Wenn sie in einer sicheren Umgebung sind, dann ist der Heilungsprozess – beziehungsweise wieder Kind zu sein – viel leichter. Dafür muss man viele Aktivitäten anbieten: Sport, Kunst, Musik hören, Theater, malen, basteln, singen, tanzen oder Ausflüge. Natürlich gibt es auch Fälle von schwer traumatisierten Kindern, wo wirkliche psychologische Hilfe benötigt wird.
Sie haben Ihr Hauptaugenmerk in Ihrem Engagement also auf Kinder gelegt…
Genau, vor allem auf Frauen und Kinder. Alle ukrainischen Frauen sind für mich grosse Helden, weil sie hier allein mit ihren Kindern sind - ohne deren Männer. Ich weiss, wie schwierig es ist, auf einmal allein, ohne Unterstützung zu sein, sich in einem fremden Land mit fremder Sprache um die Kinder kümmern zu müssen. Es ist sehr wichtig, dass sie gehört werden. Denn so sehe ich mich: Als Stimme für die Menschen, die im Moment nicht für sich sprechen können. Ich teile ihre Sorgen und kann sie nach draussen tragen. Ich weiss, was sie brauchen und weiss oft schnell, wer weiterhelfen kann.
Yegorova: "Bin einfach nur ein Mensch, der den Wunsch hat, zu helfen"
Haben Sie ein Beispiel?
Ich habe unter anderem zwei grosse Stiftungen zusammengebracht: "New Family" aus der Ukraine und "SterniPark" aus Hamburg. "SterniPark" hat die Möglichkeit, bis zu 100 Kinder, die Waisen sind oder ohne Begleitung nach Deutschland kommen, in ihren Räumlichkeiten aufzunehmen. Allerdings brauchen sie Hilfe, die Kinder in der Ukraine überhaupt zu finden. Da steckt unheimlich viel Logistik- und Papier-Aufwand dahinter.
Ausserdem unterstütze ich die Initiative #WeAreAllUkrainians von meinem Schwager [Wladimir Klitschko, Anm. d. Red.]. Kiew und Hamburg sind nun zwei Partnerstädte. Wir arbeiten in direktem Austausch mit der Ukraine, schauen, was gebraucht wird und spenden viel.
Und so geht das jeden Tag: Ich höre, was gebraucht wird, und dann versuche ich, die Menschen zu finden, die helfen können. Natürlich: Ich bin einfach nur eine Frau, eine Ukrainerin. Hinter mir steht keine Stiftung. Ich bin einfach nur ein Mensch, der den Wunsch hat, zu helfen.
Deswegen bin ich in diesem Jahr auch gerne Patin beim "KiKA Award" in der Spezial-Kategorie "Ukraine Hilfe". Es ist schön zu sehen, dass sich hierzulande auch die Jüngsten mit vollem Einsatz für die gute Sache einsetzen.
Das hört sich sehr zeitintensiv und kräftezehrend an. Wie viel Motivation haben Sie noch? Haben Sie manchmal die Sorge, dass Sie sich selbst vergessen?
Das erste halbe Jahr habe ich mich selbst total vergessen. Bei mir war das Motto nur noch "Go! Go! Go!", bis ich gemerkt habe: Ich habe noch meine eigene Familie. Momentan versuche ich, das wieder gut auszubalancieren. Es gibt mal eine Woche, wo ich permanent unterwegs bin, und dann gibt es Tage, wo es wieder ein bisschen ruhiger ist – also vielleicht nur zwei, drei Interviews. Inzwischen nehme ich auch mal zwei Tage, um mich zu regenerieren. Dann mache ich viele Spaziergänge, meditiere, treibe Sport und achte besonders auf meine Ernährung. Ich versuche, mich immer gut zu ernähren, damit ich genug Energie habe. Kraft geben mir aber auch meine Kinder. Neulich habe ich zum Beispiel drei Tage meine Tochter in Amsterdam besucht, wo sie jetzt studiert. Dann bin ich wieder Mama, bin da für meine Kinder. Aber bei mir zu Hause [in Hamburg, Anm. d. Red.] wohnen ausserdem jetzt noch meine Mama, meine Schwester, mein jüngster Neffe und seine Freundin aus der Ukraine. Für die muss ich auch Zeit haben. Manchmal fühle mich schon sehr schlecht, weil ich kaum zu Hause bin. Aber wenn ich zu Hause bin, versuche ich immer, sie auf die positive Schiene zu bringen und zu motivieren.
Yegorova: "Krieg ist eine grosse Tragödie, aber ich erlaube mir zu leben"
Wie viel Kontakt in die Ukraine haben Sie derzeit?
Ständig. Und das nicht nur über Stiftungen und Organisationen. Die meisten internen Informationen bekomme ich von meiner Familie und meinen Freunden. Meine Familie ist in und nahe Kiew. Zum Glück ist es da momentan – wenn man das so sagen kann – ruhig. Es gibt immer wieder traurige Berichte, aber auch fröhliche – wie zum Beispiel jetzt mit Cherson. Jeder hat gejubelt und sich gefreut, dass noch eine Stadt von der russischen Armee befreit wurde. Die Leute versuchen, ihr Leben ganz normal zu leben, zwischen Angriffen und Sirenen. Natürlich ist das schwer. Sie müssen zum Beispiel ihr Leben danach richten, wann sie das Licht ein- und ausschalten können. Für uns in Deutschland ist das unvorstellbar, dass Leute darauf warten müssen, dass in ein paar Stunden das Licht wieder da ist, um einkaufen gehen und kochen zu können. Ich habe, weil ich Ukrainerin bin, versucht, mich in die Situation hineinzuversetzen. Aber das ist unmöglich, weil wir hier in Deutschland weiter unser Leben leben. Aber wir können das hier nicht einfach so auf Pause stellen.
Wie fühlen Sie sich bei diesem Gedanken?
Es ist der skurrilste und absurdeste Zustand, in dem ich mich manchmal befinde: Wenn ich eine schreckliche Nachricht aus der Ukraine bekomme, dann tut mir das weh. Aber ich lebe weiter, weil ich nicht auf einen Pause-Knopf drücken und sagen kann: 'Heute geht es nicht, es geht morgen weiter.' Es ist schwierig, diese Balance zu finden zwischen 'weiterleben' und 'nicht vergessen'.
Was mir der Krieg allerdings vor Augen geführt hat: Ich geniesse wie nie das Leben und das Glück, am Leben zu sein. Ich sage mir jeden Tag: Das Leben ist nicht selbstverständlich. Es ist ein Geschenk. Wir müssen das schätzen und nicht immer über jeden Mist klagen. Wir können froh sein, dass wir aufstehen und in den Himmel sehen können – und nicht schnell in den Bombenkeller laufen müssen. Ja, ich weiss, der Krieg ist eine grosse Tragödie, aber ich lebe weiter und ich erlaube mir zu leben. Ich erlaube mir zu lachen, zu geniessen und mit meinen Kindern zu sein. Aber: mit Bewusstsein. Man darf glücklich sein. Anders würden wir Menschen gar nicht überleben. Wenn wir nur mit unglücklichen Gedanken durchs Leben gehen, würden wir irgendwann alle durchdrehen und keine Lust mehr haben, in dieser verrückten Welt zu leben.
Yegorova kritisiert in Deutschland lebende Russen: "Wo sind deren Demonstrationen?"
Wie ist die Stimmung in der Ukraine: Wird noch zwischen Kreml und russischer Bevölkerung unterschieden? Beziehungsweise: Richtet sich eine Anti-Haltung pauschal gegen ganz Russland?
Ich weiss, es gibt noch Menschen, die glauben, dass nicht alle Russen böse sind. Aber es werden weniger. Es wird schwierig, diese Brücke zwischen den Ländern wiederaufzubauen. Ich bin sehr traurig und enttäuscht, weil ich in den ersten Monaten auch gedacht habe, dass es nur das russische Regime sei. Aber gucken wir nur nach Deutschland: Wo sind die russischen Menschen, die hier schon seit über 20 Jahren leben? Wo sind deren Stimmen? Wo sind deren Demonstrationen?
Bis jetzt war in Deutschland keine einzige Demonstration, wo russische Menschen rausgegangen sind und gegen das russische Regime protestiert haben. Niemand von denen hat bisher ein Zeichen gesetzt und etwas gesagt wie: 'Das tut uns leid, dass sowas passiert zwischen Russland und der Ukraine.' Wo sind die? Die sind nicht da. Und dann stellt man sich die Frage: 'Was ist das? Wir sind hier in Deutschland. Die müssen hier nicht die Angst haben, dass jemand wie in Russland an die Tür klopft und sie in den Knast schmeisst.'
Ich glaube, dass viele russische Menschen - auch die, die nicht in Russland leben – fest an die Propaganda aus ihrem Land glauben. Und das macht mich traurig. Ich habe diesen Glauben verloren, dass die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine wieder heilen wird. Fast jede Familie in der Ukraine hat jemanden verloren. Da glaube ich nicht, dass sie sich irgendwann wieder gegenseitig umarmen und sagen können: 'Ok, der Krieg ist vorbei. Jetzt können wir uns wieder einigen.'
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