- Als TV-Köchin wurde sie bekannt, heute sitzt Sarah Wiener für die Grünen im Europaparlament.
- Menschen für eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu sensibilisieren, ist ihr noch immer ein Anliegen.
- Kurz vor ihrem 60. Geburtstag steht die Österreicherin unserer Redaktion Rede und Antwort.
Frau
Sarah Wiener: Für mich gibt es kaum etwas Wichtigeres. Das, was wir essen und wie wir es herstellen, hat nicht nur mit unserer Gesundheit, mit Identität und Freude zu tun, sondern verbindet uns mit der gesamten Mitwelt. Ich kann auf vieles verzichten, aber nicht aufs Essen.
Wie dürfen wir uns einen typischen Tag in Ihrem Leben vorstellen?
Ich bin meistens in Brüssel im Parlament und eine Woche im Monat in Strassburg. Mein typischer Tag besteht aus Sitzungen, Ausschüssen, lesen, zuhören und verstehen, wie Politik funktioniert und was ich tun kann, um meine Themen voranzutreiben. Ich versuche gleichzeitig politische Arbeit innerhalb und ausserhalb des Parlaments zu leisten. Schliesslich bin ich ja eine Volksvertreterin und möchte den Leuten näherbringen, was ich mache und wie es da drin überhaupt läuft. Dabei bin ich auf meine "wenigen" Themen spezialisiert: allgemeine und alternative Landwirtschaftssysteme, Pestizide, Labeling, schwer verarbeitete Nahrungsmittel, Umweltgifte, multiresistente Keime, gesunder Boden, Vielfalt in Rassen und Sorten, Ernährungssouveränität, Tierwohl, um nur einige zu nennen …
In Ihrer politischen Arbeit setzen Sie sich auch für eine Pestizidreduktion in der Landwirtschaft ein und plädieren somit für eine nachhaltige, enkeltaugliche Landwirtschaft. Wie empfinden Sie das Bewusstsein aus Verbrauchersicht, wenn es um Pestizide geht?
Ich denke, dass wir doch alle so leben wollen, dass wir nicht krank oder unfruchtbar werden, keine chronisch entzündlichen Krankheiten entwickeln, dass unsere Kinder noch klares unbelastetes Wasser trinken können und unsere Mitwelt weiterhin eine vielfältige wunderbare Natur hervorbringt. Keiner von uns hat aufgezeigt und gesagt: "Ich will bitte antibiotikaverseuchtes Fleisch von gequälten, überzüchteten Tieren essen und minderwertiges Gemüse, das Pestizidrückstände enthält." Ein raffiniertes jahrzehntelanges Marketing und Werbung haben uns eingetrichtert, dass es ohne nicht geht und dass wir diese Art von Ernährung doch auch wollen.
Und dennoch spielt genau diese Art von Ernährung eine Rolle auf den Tellern der Menschen …
Viele konservative Menschen und die Lobby der Agroindustrie verteidigen eine Landwirtschaftsentwicklung, die das Bauernsterben vorantreibt und die Vielfalt auf unseren Tellern abschafft. Hier muss man sich entscheiden: Ist man für den regionalen Bauern oder ist man für den Welthandel, der die Agroindustrie bedient? Ist man für eine stabile krisenresiliente Landwirtschaft, die keinen Input von der Agrochemie braucht und in jeder Region anders aussehen kann und klimaangepasst ist? Oder macht man einfach weiter wie bisher, weil man Veränderungen fürchtet? Beides geht nicht.
Welt der Pflanzen und Pilze bringt jede Menge Vielfalt mit
In diesem Zusammenhang geht es auch schnell um ein weiteres Herzensthema, für das Sie sich seit Jahren starkmachen: das Bienensterben …
Richtig. Insekten sind die Basis aller Vielfalt und allen Lebens. Wir stehen auf deren Schultern. Sie bestäuben alle Pflanzen, die wir dann essen. Sie ermöglichen Vielfalt im Wasser, in der Luft und auf den Feldern. Zudem sind speziell Bienen kleine Wunderwesen. Ich imkere seit Jahren selber und bin beeindruckt, wie sozial und solidarisch diese Tiere sind. Vor allem lügen sie nie. Sie bereichern sich nicht heimlich selbst am Honig. Selbst wenn sie eine schlechte Behausung als Ersatz für die alte finden, tanzen sie die Wahrheit. Denn sie wissen: Ohne den anderen bin ich nichts. Das sichert dem gesamten Volk sein Überleben.
Die vegane Bewegung spielt im Essverhalten der Menschen eine immer grössere Rolle. Nichtsdestotrotz üben Sie hier Kritik – nämlich, dass diese Bewegung den Weg zu einer ungesunden Künstlichkeit unserer Ernährungskultur frei macht. Erklären Sie uns das einmal: Immerhin werden dadurch doch weniger Tiere gequält und vegane Fleisch-Alternativen stossen bis zu 90 Prozent weniger Treibhausgase aus.
Ich möchte lieber über Surrogate, über Kunstprodukte allgemein sprechen. Es gibt keine einzige Studie, die besagt, dass Produkte aus dem Bioreaktor in der Gesamtheit besser für unsere Mitwelt wären. Ob nun vegan oder nicht: Kunstprodukte machen keine einzige Ökodienstleistung. Sie sind patentiert, nebenbei von den grössten Fleischverarbeitern bezahlt und monopolisiert, sind industriegesteuert, erzeugen Tonnen von Müll und benötigen eine enorme Menge an Energie, Wasser, Medikamenten und Ressourcen. Sie brauchen ein künstliches Nährmedium in einer keimfreien Umgebung. Wenn man weiss, dass es zahllose Mikroorgansimen in und auf uns sind, die den Menschen gesund erhalten, darf man schon Zweifel haben, was wir da gerade eigentlich machen.
Was sollten wir also tun?
Die Frage ist doch: Will ich ein natürliches Grundprodukt essen oder ein schwerstverarbeitetes Endprodukt, das die Natur in Fabriken und Chemielabore packt und sagt "Das ist doch toll. Wir retten die Welt …"? Und nebenbei verdienen genau diese Fabriken Milliarden und machen die Menschen abhängig von ihrem Produkt, weil es keine Alternativen geben wird und soll. Dabei wird kein Unterschied zwischen einem Weidetier auf Dauergras und einem Hochleistungshybriden in Tierfabriken gemacht. Wenn Tiere leiden, will ich das Leid abschaffen und nicht das Tier. Jedes Lebewesen lebt auch gern. Dafür dürfen wir alle weniger Fleisch essen und wir müssen endlich viel weniger wegschmeissen. Das ist im Grunde kein Verzicht, denn die Welt der Pflanzen und Pilze ist doch so viel reichhaltiger und köstlicher als ein Steak.
Dennoch spielen künstliche Erzeugnisse eine immer grösser werdende Rolle …
Bevor ich ein manipuliertes Kunstprodukt esse, das die Landwirtschaft und vielfältige Natur abschafft, uns auf Dauer mangelernährt und krank machen kann und die Klimakrise sogar noch verschärft, esse ich doch lieber die Grundprodukte direkt und regional. Mittlerweile gibt es nicht nur Fake-Huhn, -Eier, -Fisch und -Fleisch, sondern auch Fake-Honig, Fake-Schokolade und Forschungen an geschätzt 500 anderen Produkten. Da rollt das nackte Grauen auf uns zu.
Wiener: Menschen sollen sich mit ihrer Mitwelt verbunden fühlen
Wer also Fleisch essen möchte, sollte das auch tun?
Wer sagt, er will Fleisch essen, weil er nicht darauf verzichten kann, sollte das ganze, wesensgemäss gehaltene Tier samt Innereien essen und die mengenmässige Reduzierung richtig geniessen. Zu denken, man müsse auf gar nichts verzichten und könne nebenbei die ganze Welt retten, ist Selbstbetrug.
Worin liegt konkret Ihre Sorge?
Ich hatte mit meiner damaligen Prognose recht: Wir sind in unseren Breitengraden dabei, unser gesamtes Nahrungsmittelsystem so zu verändern, dass wir nicht mehr die sein werden, die wir mal waren. Es gibt einige Menschen, die wirklich alles Künstliche essen würden, weil sie keinen Bezug mehr zu ihrem Körper und ihrer Seele haben. Sie fühlen sich nicht mit der Mitwelt verbunden, weil sie diese nicht kennen und daher nicht schützen wollen und können.
Was bedeutet Essen für Sie ganz persönlich?
Ich bin altmodisch. Ich liebe es, in zwanzig verschiedene Tomatensorten zu beissen, verschiedene Honigarten zu geniessen und meine verschiedenen Apfelsorten zu verarbeiten. Ich esse auch ab und zu ein gutes Stück Fleisch von meinem Biohof. Jeder, der Wert auf gutes Essen legt, kennt den Genuss einer guten selbst zubereiteten Mahlzeit. Das ist mehr als reine Nahrungsaufnahme. Das ist Kultur und Selbstbestimmung. Deswegen werden Individualisten auch immer für individuelle, vielfältige Ernährung kämpfen.
Wofür plädieren Sie demnach: Fleisch oder Alternativen wie Beyond Meat?
Ich plädiere für eine natürliche, köstliche und frische Vielfalt. Niemand sollte Fleisch essen, wenn er nicht will und verzichten kann. Es gibt viele Völker, die seit Jahrhunderten vegetarisch leben. Ich war einige Jahre selbst Vegetarierin. Es gibt einen Unterschied zwischen Vegetariern, die frisch und selber mit köstlichen Grundprodukten kochen und Menschen, die aus einem richtigen Impuls, aber leider uninformiert eine Industrie unterstützen, die Geschmack und Vielfalt abschafft und monopolisiert. Weniger Fleisch zu essen, ist aber ein guter erster Schritt. Ich persönlich esse keine hochverarbeiteten Produkte – egal, wie sie sich bezeichnen und ob sie einen bestimmten Lebensstil bedienen. Ich hoffe, dass meine Enkelin eines Tages auch noch die Wahl haben wird, die frische Vielfalt zu geniessen.
Sie feiern am 27. August Ihren 60. Geburtstag – wie empfinden Sie das Bewusstsein hinsichtlich Nachhaltigkeit und Ernährung innerhalb Ihrer Generation im Vergleich zu der jüngeren Generation?
Die jüngere Generation ist oft sehr engagiert, wach und gut informiert. Sie muss sich mit Krisen und Herausforderungen herumschlagen, die es in meiner Jugend nicht gab. Früher war das Motto: Wir können alles machen, also machen wir es. Stetes Wachstum, immer mehr Konsum, alles immer billiger auf Kosten der Natur und anderer Menschen. Und wir waren immer auf der richtigen Seite des Profits. Heute merken wir, dass alles seinen Preis hat. Es gibt keinen Konsum, der wirklich nachhaltig ist. Wenn ich egoistisch handle, gibt es immer Verlierer. Den Schaden, den wir in den letzten 40 Jahre angerichtet haben, erfordert die Einsicht von Mühe, Demut und Erkenntnis. Keine Technofix, keine neuen Geschäftsmodelle, keine Forschung wird die Natur und deren Gesetzmässigkeiten aushebeln können. Wieso also nicht von ihr lernen? Das wünsche ich mir von den jungen Leuten und von allen anderen Generationen: Anerkennung der Fehler, Analyse und ernsthaftes Bemühen einer Korrektur.
Noch ein weiterer Geburtstag steht an: das 15-jährige Jubiläum der Sarah Wiener Stiftung, die getreu dem Motto "Ich kann kochen!" Familien und Kindern die Freude am Kochen nahebringt. Was konnte die Stiftung in den vergangenen Jahren erreichen?
Kochen können macht unabhängig, hält gesund und verbindet Menschen. Kochen macht Spass. Kochen sollte jeder können. Wir bilden deutschlandweit Pädagogen weiter, die dann Kindergruppen ab drei Jahren in Kitas und Schulen Kochen beibringen. Wir bieten aber auch einem Teil unserer Kinder Bauernhoffahrten an, um sie mit dem Ursprung der Lebensmittel zu verbinden. Allein in den vergangenen fünf Jahren haben wir mithilfe unseres Partners Barmer Krankenkasse über 1,2 Millionen Kindern das Kochen beigebracht.
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