"Höher, schneller, weiter" ist eine Maxime der Selbstoptimierer. So gesund wie möglich essen, den Tag minutiös planen und optimal nutzen und dabei natürlich stets die Leistungsfähigkeit von Körper und Geist im Fokus haben – Trendforscher bezeichnen das 21. Jahrhundert als ein "Zeitalter der Selbstoptimierung". Aber ist dieses "Tuning" auch wirklich gut? Das ZDF-Magazin "37°" hat Menschen begleitet, die sich und ihr Leben optimieren, und Fragen gestellt: Was treibt sie an? Wo lauern Gefahren? Fitness-Influencerin Sophia Thiel und "Biohacker" Andreas sind zwei der ProtagonistInnen, die in der "37°"-Reportage ihre Geschichte erzählten.
Andreas wird täglich um exakt 6:30 Uhr von einer Lampe geweckt, die die natürliche Morgenröte imitiert. In der Nacht trägt er ein Meditationsstirnband, das seine Gehirnströme aufzeichnet. So möchte er seine Konzentrationsfähigkeit optimieren. Das ist erst der Beginn seiner Routinen, denn gleich anschliessend legt er sich für drei Minuten in ein saukaltes Eisbad.
"Einerseits, um wachzuwerden, andererseits ist das ein super Primer für alles, was der Tag danach so von mir erwartet. Wenn du dich in der Früh schon mit der Kälte konfrontierst, wird dir den Rest des Tages nicht mehr viel Unangenehmeres begegnen", meint Andreas zu wissen. Der 48-Jährige ist ein Ich-Vermesser und ein sogenannter "Biohacker".
"CEO der eigenen Gesundheit"
Biohacker versuchen, ihren Körper zu "hacken", also wie Computer-Hacker in ein System einzudringen, um es zu verändern. Der 48-Jährige betrachtet sich auch als "den CEO der eigenen Gesundheit". Eines seiner wichtigsten Tools: Ein Ring mit allerlei Elektronik, der laufend seine Vitalwerte und seinen Schlaf misst.
Zwei bis drei Mal pro Woche geht er obendrein in einer mobilen Hyperbarkammer auf Tauchgang. Dort wird der Sauerstoff bis zu 95 Prozent konzentriert und der atmosphärische Druck erhöht, was den Sauerstoff besser im Körper verteilen soll. Man gönnt sich ja sonst nichts. Mittlerweile hat Andreas die Optimierung von Körper und Geist zum Beruf gemacht und ein Biohacking-Lab in München gegründet.
Die Wende im Thailand-Urlaub
Selbstoptimierung hat viele Gesichter. Der Trend zur Optimierung des "Ich" ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, Trendforscher bezeichnen das 21. Jahrhundert bereits als "Zeitalter der Selbstoptimierung". Schon 2016 fühlte sich ein Drittel der Deutschen als Selbstoptimierer. Aber ist alles, was "mich" besser macht, einem auch tatsächlich zuträglich?
Woran Andreas keine Sekunde zweifelt: Diese Art der Selbstoptimierung rettete ihm nach einem Burnout 2016 das Leben. Die 42 Jahre davor fanden ihm zufolge primär auf der Überholspur statt. Ein Urlaub im Jahr 2016 brachte dann die Wende. In Thailand an der Bar – er hatte zwei, drei Bier zu viel – beschloss er ganz plötzlich, sein Leben zu ändern und in die Selbstoptimierung zu gehen. Seine Ex-Frau Shirin, zu der Andreas nach wie vor einen guten Draht hat, begrüsst dessen Zäsur: "Seine wahnsinnige Unruhe ist nicht mehr da. Dieses Masslose macht ja total unruhig und unzufrieden. Er hat sich ständig selber runtergemacht."
"37°: Die Ich-Vermesser": Influencer-Star verschwindet einfach
Auch Fitness-Influencerin
2012 begann Thiel mit Diäten, nahm danach 30 Kilogramm ab, entdeckte das Bodybuilding für sich und liess die Öffentlichkeit über die sozialen Medien an ihren Erfahrungen teilhaben. Obendrein schrieb sie Bücher, wurde Kraftsport-Star und entwickelte ein erfolgreiches Fitnessprogramm. Sie dachte, sie hätte den universellen Schlüssel für ein Abnehmen nach konkretem Plan gefunden. Doch 2019 verschwand sie plötzlich von der Bildfläche.
Körper geprügelt und zum Erfolg gezwungen
Nicht ein einziges Posting auf ihren Kanälen bis zu ihrem Comeback 2021. Der Grund: Sophia Thiel war zusammengebrochen, auf ihr lastete zu viel Druck. Darüber hinaus verschwieg sie der Öffentlichkeit, dass sie unter Essanfällen litt. "Dieser Perfektionismus hat so einen enormen Druck in mir ausgelöst. Dann kamen eben diese ganzen Termine und Projekte dazu. Ich konnte zu nichts nein sagen. Und ich hab auf viele Dinge leider verzichtet. Ich dachte einfach, das sei der Preis des Erfolgs", erzählt sie heute.
Gleichzeitig war Sophie, die bis zu sieben Mal die Woche trainierte, der Ansicht, dass sie ihren Körper prügeln und zum Erfolg zwingen müsse. Bis Anfang 2019 trainierte Sophie noch, aber die Diäten wollten plötzlich nicht mehr klappen, weshalb Auftraggeber Termine absagten. Sie sei nicht mehr "in Shape" bekam sie zu hören. Erst durch eine Therapie konnte sie ihre Essstörung aufarbeiten. "Es gibt immer Tage, wo man sich schlecht fühlt. Früher hätte ich gesagt, durchziehen und gut. Heute muss ich mich dann auch nicht zum Post zwingen", so Sophie dieser Tage.
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Selbstoptimierung als Rohveganer
Zwar haben die Worte "Höher, schneller, weiter" für Karina (31) und Philip (32) aus Braunschweig keine grosse Relevanz, doch auch sie sind Selbstoptimierer. Sie wollen zu sich selbst finden, sich von allen materiellen Dingen trennen und demnächst in einen ausgebauten Kleinbus umziehen. Augenblicklich sind sie also dabei, Schritt für Schritt ihr Leben umzustellen.
"Wir können den Fokus komplett auf uns und die Natur lenken", sagt Karina. Sie und Philip sind zudem Rohveganer. Heisst: Sie verzichten natürlich auf tierische Produkte und halten weiter alles Gekochte oder Gebratene für schädlich, weshalb sie alles roh essen. Öl und Gewürze gibt es für sie ebenso nicht. Beide verstehen ihren Weg zum Minimalismus als Optimierung. Sie wollen ihr Ich verbessern und perfektionieren.
Job an den Nagel gehängt
Karina war, bevor sie Philip kennenlernte, verheiratet, und wohnt nach wie vor in einer Eigentumswohnung, die sie jetzt allerdings verkaufen will. Ihren Job, sie war in leitender Position, hat sie bereits aufgegeben. "Ich hab’ früher gedacht, dass das, was man beigebracht bekommt, so ist. Ich hab’ irgendwann gemerkt: Das bist du nicht. Dein Leben ist da draussen, die Natur. Dafür bin ich bereit, vieles hinter mir zu lassen", so die Selbstoptimiererin heute.
"Selbstoptimierung sehen wir als Weg, zu sich zurückzufinden", ist Philip, der sein Leben schon vor Jahren verändert hat, überzeugt. Philip war Kraftsportler und wog satte 105 Kilogramm bei einer Grösse von 183 Zentimetern. Doch er hatte das Gefühl, der Kraftsport mache ihn krank. Er litt ständig unter Kopfschmerzen und Schwindel. Über die Rohkost fand er Heilung und wieder Lebensfreude.
Beim Brennesselbad die Sinne stärken
Für Karinas Mutter sind die neuen Lebensumstände der Tochter nicht einfach. "Zuerst hat es mir ein bisschen Sorge gemacht, weil ich das Gefühl hatte, sie befinde sich in so einer Glocke. Ich hab' sie dann gefragt, ob sie das wirklich aus freien Stücken entscheiden würde" erzählt sie. "Ich hätt's sowieso gemacht – ob mit ihm oder ohne ihn", antwortete die Tochter, die danach mit ihrem Lebenspartner ein Brennesselbad nimmt. Dabei laufen sie halbnackt durch Brennesselsträucher, um die Durchblutung zu fördern und die Sinne zu stärken. "Was macht das, wenn die Pflanze dich berührt? Das hat so viel mit Achtsamkeit zu tun, das zu beobachten", sagt Karina. Noch leben sie und Philip von ihren Ersparnissen. Künftig wollen die beiden ihre Erfahrungen und ihr Wissen aber in Online-Coachings und -Seminaren weitergeben.
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