Jan Böhmermann hätte es sich in seiner letzten Ausgabe des "ZDF Magazin Royale" vor der Winterpause leicht und gemütlich machen können. Ein paar Zimtsterne naschen bei einer Musik-Ausgabe vielleicht oder wieder eine satirische Weihnachtsgeschichte erzählen, wie er es schon mal getan hat. Aber Satiriker Böhmermann packt kurz vor Weihnachten noch einmal die Arbeitswut und so hebt er sich die komplexeste Folge seiner Show bis zum Schluss auf.
Vor Weihnachten "besiegen wir heute in dieser Sendung offiziell und für immer den Antisemitismus und Rassismus und: Weil es die letzte Sendung in diesem Jahr ist, geht’s natürlich auch ein bisschen um Deutschland", beginnt Jan Böhmermann am Freitagabend ironisch, als würden sich Antisemitismus, Rassismus und Deutschland ausschliessen. Aber genau darum geht es an diesem Abend.
Antisemitismus und wie er in Deutschland praktiziert wird – oder eben auch nicht – und der Anfang dieses Rundumblicks liegt in den aktuellen Ereignissen in Israel und Gaza: "Heute reden wir in der Sendung über: den Krieg im Nahen Osten. […] Weil eines weiss ich sicher: Ohne unsere starken Meinungen, unsere wichtigen Gedanken, ohne unsere Kommentare sind die da unten im Nahen Osten doch komplett lost", findet
Nahost-Konflikt: "Alle müssen was sagen wollen"
"Der Krieg im Nahen Osten ist optimaler Content für Social-Media-Algorithmen. Denn: Alle wollen was sagen. Beziehungsweise: Alle müssen was sagen. Beziehungsweise: Alle müssen was sagen wollen", kritisiert Böhmermann einen angeblich gesellschaftlichen Druck, sich zum Krieg im Nahen Osten äussern zu müssen. Allein, es fehlt der Beweis für diese Behauptung und es ist sogar anzunehmen, dass es diesen Druck vielleicht in bestimmten Milieus gibt, aber sicher nicht flächendeckend.
"Und leider sagen dann auch viele wirklich was", erklärt Böhmermann weiter und zeigt einen Einspieler von "Focus Online", in dem Schauspielerin
Nun kann man natürlich die Dauersendung mancher Prominenter zu Themen aller Art kritisieren, aber wenn man Meinungsfreiheit meint, meint man eben auch das Recht, eine Meinung – zumindest im Rahmen der Gesetze – zu äussern, die vielleicht nicht allzu klug ist. Böhmermanns Punkt ist aber: "Hier bei uns in Deutschland haben auf einmal sofort alle eine eindeutige Meinung zu haben." Behauptet jedenfalls Böhmermann.
Jan Böhmermann: "Das ist das Deutscheste ever"
Der Beweis, dass das erstens stimmt und zweitens ein exklusiv deutsches Phänomen ist, will Böhmermann über einen Beitrag von welt.de führen. Dort habe der Autor Statements prominenter Deutscher gegen Judenhass sammeln wollen, aber nur eine Influencerin und eine Aktivistin hätten zugesagt. "Worum geht es im Nahostkonflikt? Um Deutschland natürlich", fragt Böhmermann daraufhin voller Ironie und bringt als Beweis ein paar Schlagzeilen, zum Beispiel: "Risse in der Gesellschaft – Wie verändert der Nahostkonflikt Deutschland?" Die vielen Schlagzeilen über den Nahostkonflikt, in denen es nicht um Deutschland geht, zitiert er nicht, kommentiert stattdessen zynisch: "Endlich können wir mal wieder über uns reden – danke Hamas."
Ähnlich pauschal sieht es bei Böhmermanns nächstem Kritikpunkt aus. "Wer den falschen Namen hat oder schon mal 'ne Moschee an 'nem Freitag von innen gesehen hat, ist seit dem 7. Oktober 2023 grundsätzlich des Antisemitismus verdächtig – auch, weil es in Deutschland genug Vollidioten gibt, die das Massaker in Israel zum Beispiel mit dem Verteilen von kostenlosem Baklava gefeiert haben, in der Sonnenallee in Berlin Neukölln am 7. Oktober 2023", berichtet Böhmermann. Die Organisation, die das gemacht habe, sei vorher "den deutschen Sicherheitsbehörden irgendwie nicht so wichtig" gewesen. Genauso wie die Hamas, die habe zuvor in Deutschland deshalb noch agieren können, weil sie keine Vereinsstruktur habe. Erst jetzt gebe es ein Betätigungsverbot.
"Das ist das Deutscheste ever, was ich je gehört habe und ich arbeite beim ZDF", kalauert Böhmermann. Kann man natürlich machen. Man könnte aber auch sagen: Das Deutscheste ever ist, statt nach den Gründen zu fragen, das Vorgehen als "das Deutscheste ever" zu deklarieren. Aussagen wie "typisch deutsch" sind eben typisch deutsch.
Wesentlich plausibler ist Böhmermann da bei seiner Kritik an Friedrich Merz, den er aus der "Neuen Züricher Zeitung" vom Oktober dieses Jahres zitiert, wonach Deutschland nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen könne, denn: "Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land."
Einhaltung der Abfallgesetze als Akt gegen Antisemitismus?
Nun könnte man resignierend sagen: "Typischer Merz-Populismus", Böhmermann aber wählt die Sachebene und sagt: "Abgeschobene Antisemiten sind dann zwar immer noch Antisemiten, aber immerhin woanders". Abschiebung verhindert keinen Antisemitismus, sie sorgt nur dafür, dass man sich nicht mehr darum kümmern muss. Aber im Kümmern um Antisemitismus sieht Böhmermann in Deutschland ohnehin Nachholbedarf, denn Antisemitismus gebe es hier nicht erst seit dem 7. Oktober. Er sei vorher bedrohlich gewesen und jetzt noch schlimmer: "Wir hätten natürlich auch vor dem 7. Oktober schon was machen können – zum Beispiel Rechtsextreme aus den deutschen Parlamenten raushalten – aber boaah, das sind so viele", urteilt Böhmermann ironisch.
Nicht ironisch war vor ein paar Wochen das "Manifest" der "Bild", eine selbsternannte "Leitidee für das, was unsere freie Gesellschaft zusammenhält". Hier greift Böhmermann unter anderem Punkt 33 auf, in dem es heisst: "Deutschland ist ein Land der Griller. Nach einem Picknick im Park nehmen wir unseren Müll wieder mit." Diese Zeilen sind vieles, unter anderem peinlich, denn sie stilisieren das deutsche Kreislaufwirtschaftsgesetz zur Leitidee. Aber Böhmermann entdeckt hier die eigentliche Absicht: "Die ‚Bild‘ ey, einfach mal ein ganzes Manifest in die Welt gerotzt, angeblich aus Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland. Dabei ist das nichts anderes als ein weiteres, typisch deutsches Ausgrenzungspapier."
Böhmermann macht weiter mit seinem Rundumblick bis er zu der Ansicht gelangt: "Wenn es um den Krieg im Nahen Osten geht, interessiert sich in Deutschland niemand wirklich für Israel, Palästina, die Hamas oder Netanjahu und schon gar nicht für die konkret betroffenen Menschen. Wer sich in Deutschland zum Nahost-Krieg äussert, dem geht es zuallererst um sich selbst." Das würde allerdings in dieser Pauschalität auch für Böhmermann selbst und diese Ausgabe des "ZDF Magazin Royale" gelten. Das merkt auch Böhmermann, aber nur weil er an dieser Stelle ein Bild von sich selbst einblendet, ist das zwar eine gute Pointe, ändert aber nichts daran, dass diese Pauschalisierung falsch ist.
"Wenn Deutsche sich einig und sicher sind, wird es für irgendjemanden gefährlich"
Aber Böhmermann hat schlussendlich eine Auflösung parat, die all die Pauschalisierungen und manche Ungereimtheiten versöhnen kann oder zumindest soll. Es gehe immer auch um die eigene Agenda, erklärt Böhmermann und fragt dann: "Aber was ist denn dann meine?" Bevor er sie verrät, fliegt Böhmermann mit einer Kameradrohne über Köln und zeigt die Orte in der nächsten Umgebung, an denen die Nazis wüteten oder Unternehmen ihnen dabei halfen. Böhmermanns Fazit: "Wer in und aus Deutschland spricht, dem kann nichts so leicht eindeutig sein. Denn das Eindeutige – hier gut und dort böse – ist Teil des Problems. Und immer, wenn Deutsche sich einig und sicher sind, wird es für irgendjemanden gefährlich."
Eine Perspektive, die vielleicht zu pauschal, vielleicht aber auch richtig ist. Eine andere Perspektive könnte sein, dass Deutschland ein Land ist, das den Antisemitismus, den es während des Nazi-Regimes in seiner bisher schlimmsten Ausprägung erlebt und ausgelebt hat, nie perfekt, aber immerhin doch bearbeitet hat, ein Land ist, das sich so gut es geht institutionell sicher gegen ein "Schon wieder" gemacht hat und ein "Nie wieder" über viele Jahre, zumindest in Wahlen, auch ausgedrückt hat.
Vielleicht aber ist Böhmermanns Perspektive die relevantere, weil wachsamere. Jetzt, da Menschen schon wieder vermehrt rechten Rattenfängern und ihren einfachen und menschenverachtenden Antworten erliegen. Daher ergeben Böhmermanns Pauschalisierungen und Widersprüche am Ende noch einen Sinn, damit aus dem gerade beginnenden "Schon wieder" wieder ein "Nie wieder" wird. Oder wie es Böhmermann am Ende selbst formuliert: "Die Wahrheit liegt manchmal in den Widersprüchen und meistens in der Selbstkritik, aber immer in der Bereitschaft, nicht zu generalisieren und dafür das Gemeinsame zu suchen. Denn einander, ist leider alles, was wir haben."
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