So locker wurde im deutschen TV wohl noch nie über dieses Thema gesprochen: Die neue Late-Night-Show "Freitagnacht Jews" will eine Perspektive auf jüdisches Leben in Deutschland liefern. Antisemitismus und NS-Zeit werden dabei nicht ausgespart - trotzdem behält das Talk-Format eine Leichtigkeit.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Julia Wolfer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Juden in Deutschland - der Gedanke löst im Kopf unweigerlich Bilder aus vom Schrecken der Nazi-Diktatur, von Antisemitismus, Holocaust, Auschwitz. Dass jüdisches Leben heute viel mehr ist als das, zeigt die WDR-Sendung "Freitagnacht Jews - Der Talk zum Schabbat".

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Gastgeber ist Schauspieler und Musiker Daniel Donskoy, der andere prominente Juden in Schabbat-Tradition am Freitagabend bei selbst gekochtem Essen zu Tisch bittet.

Nicht von der vermeintlichen Schwere abschrecken lassen

Er habe lange überlegt, ob er die Moderation des neuen Talkshow-Formats übernehmen solle, sagt Donskoy zu Beginn der ersten Folge, "ob ich mir diesen Stempel aufdrücken möchte". Gut, dass sich Donskoy dafür entschieden hat.

Auch als Zuschauer sollte man sich nicht von der vermeintlichen Schwere des Themas abschrecken lassen: Natürlich ist die Vergangenheit immer wieder Thema - doch "Freitagnacht Jews" richtet die Perspektive vor allem auf jüdisches Leben in Deutschland heute und ist eine kurzweilige Late-Night-Show, an deren Ende man um ein paar Erkenntnisse reicher ist.

Zum Beispiel die, dass jüdisch nicht automatisch gleichzusetzen ist mit Religion. "Ich bin Atheist", sagt Donskoy gleich in der ersten Sendung, die am vergangenen Freitag im WDR ausgestrahlt wurde. Er lebe sein Jüdischsein weniger aus, "aber ich fühle es."

Beim WDR hat das wohl nicht bei jedem der Beteiligten ins Bild gepasst. Im Vorgespräch zur Sendung sei infrage gestellt worden, ob er der Richtige für "Freitagnacht Jews" sei, denn er sei nicht "repräsentativ" für die Gruppe. Das verdeutlicht das Problem schon ganz gut.

Ähnlich wie Donskoy empfinden aber auch seine ersten Gästen, Schriftstellerin Mirna Funk und Schauspielerin Susan Sideropoulos, ihr Jüdischsein. "Es ist eine Gefühlsangelegenheit", sagt Sideropoulos.

Es wird nichts weggelassen - auch keine Verschwörungsmythen

Neben der Interpretation ihrer individuellen jüdischen Identität karikieren sie auch Verkupplungsversuche jüdischer Mütter und mokieren sich über eine Dating-App speziell für Juden. Ausgeklammert wird dabei nichts, auch nicht die Geschichte. "Man hat 10-mal geswipet - und dann ist kein Jude mehr da in Deutschland", sagt Mirna Funk über ihre Erfahrungen mit der jüdischen Dating-App "JSwipe", die nach dem Tinder-Prinzip links oder rechts Wischen funktioniert. "Da ist offensichtlich etwas passiert vor 80 Jahren."

Hier wird nicht geschönt oder gar weggelassen - weder die Shoa noch antisemitische Verschwörungsmythen: "Eine der ältesten Verschwörungstheorien ist ja, dass Juden mit Christenkinderblut kochen", sagt Donskoy in Folge zwei zu seinem Gast, dem Publizisten Max Czollek, nachdem er ihm gerade selbst gekochten Borschtsch vorgesetzt hat. "Ich habe mir die besten Kinder ausgesucht für diese purpurrote Suppe."

Solche schmerzhaften Momente finden immer wieder ihren Weg ins Gespräch. Doch bevor sich das innerliche Unbehagen zu sehr ausbreiten kann, ist man schon beim nächsten Thema - ganz so, wie es bei einem geselligen Abend mit Freunden auch laufen würde. So locker ist vielleicht noch nie über jüdisches Leben im deutschen TV gesprochen worden.

"Freitagnacht Jews": Cool, hip - und für YouTube

Locker und lässig, auf diesen Eindruck legt das Format generell wert. Das Ambiente zwischen Gartenlaube und Weindinner kommt betont cool und hip daher. Das gilt auch für den Gastgeber, der nicht nur durch seinen Rapper-Gestus zu Beginn wirkt, als sei er einem Musikvideo entsprungen. Seine Outfits - roter Anzug, weit ausgeschnittenes Unterhemd, Goldkettchen und Siegelringe - schreien 'Rockstar'.

Mit ebensolchen muss er auch um die Aufmerksamkeit einer jüngeren Zielgruppe konkurrieren, denn "Freitagnacht Jews" wurde im Rahmen des WDR-Schwerpunkts zu "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" in erster Linie für YouTube konzipiert. Nur die Pilotfolge wurde - Stand heute - im linearen Fernsehen ausgestrahlt.

Zum Tempo und der Lässigkeit mögen auch die vielen Kurzen beitragen, die im Laufe der Sendung mit einem zugeprosteten "L’Chaim" gekippt werden. Was das bedeutet - es ist Hebräisch und steht für "Auf das Leben" - erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer in eingeblendeten Begriffserklärungen. So lernt man allerlei neue Wörter - zum Beispiel auch, was Hoden auf Jiddisch heisst.

Auch sonst fühlt man sich gut abgeholt - zuweilen hat man das Gefühl, mit am Tisch zu sitzen. Das liegt zum einen an Donskoy, der den Blick immer wieder direkt in die Kamera und das Wort an den Zuschauer richtet. Zum anderen an der - im besten Sinne - unsteten Kameraführung. Hier schwankt die Kamera, ganz so wie es der Blick eines am Tisch Sitzenden auch tun würde.

Hier möchte man mit am Tisch sitzen

Tatsächlich gelingt es "Freitagnacht Jews", eine neue Perspektive auf jüdisches Leben in Deutschland zu geben - und kommt dabei fast ganz ohne Schwere aus. Der historische Ballast lässt sich nicht ignorieren, deshalb wird er akzeptiert. Und um Stereotype zu überwinden, hilft es, neue Bilder hinzuzufügen. Es ist ein Weg raus aus der Schublade.

Obendrein bedient das Format nach einem Jahr Pandemie die Sehnsucht nach einem geselligen Abend unter Freunden. Man möchte hier tatsächlich mit am Tisch sitzen. Interessante Gespräche bei einem Glas Wein führen. Und am Ende mit dem Gefühl nach Hause gehen: Dieser Abend war bereichernd.

Sechs weitere Folgen von "Freitagnacht Jews" gibt es jeweils freitags ab 17 Uhr in der ARD-Mediathek sowie auf Youtube.
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