• Heidi Klum sucht einmal mehr nach Deutschlands nächstem Topmodel: GNTM ist in die 18. Staffel gestartet.
  • Seit einigen Jahren sind es nicht mehr ausschliesslich Size-Zero-Models, die eine Chance auf diesen Titel haben – die Diversity wird grossgeschrieben und Klum legt in jeder Staffel sehr viel Wert darauf, diverse Anwärterinnen auszuwählen.
  • Ob das, was bei "Germany's Next Topmodel" gezeigt ist, wirklich divers ist und wie Diversity uns beeinflusst, hat Kommunikationswissenschaftlerin Kathrin Karsay im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt.
Ein Interview

Frau Karsay, bei GNTM wird seit einigen Staffeln sehr viel Wert auf Diversity gelegt, Heidi Klum erwähnt das ständig. Ist das, was sie zeigt, wirklich divers, oder ist es vielmehr eine Schein-Diversität? Etwa weil Kandidatinnen, die Grösse 40 tragen, schon als Plus-Size-Model gelten.

Kathrin Karsay: Die Models sind diverser als zu Beginn von "Germany's Next Topmodel". Aber dennoch geht es natürlich um idealisierte Darstellungen. Es werden weiterhin normativ sehr hübsche Menschen gezeigt. Aber Diversität ist natürlich ein Schlagwort, das sich gut verkaufen lässt.

Normativ sehr hübsche Menschen werden gezeigt – also doch wieder nur ein bestimmter Teil der Gesellschaft?

Ja, man sieht das etwa bei den Plus-Size-Models. Die tragen zwar grössere Grössen oder sind dicker, haben aber eine Sanduhrfigur oder sehr schlanke Gesichter. Auch hier sind gängige Schönheitsideale trotzdem weiter vorrangig. Insofern ist dem Argument, dass hier eine Schein-Diversität gezeigt wird, bis zu einem gewissen Grad etwas abzugewinnen. Jeder kennt den Begriff des Greenwashing und mittlerweile auch des Rainbow Washing. Manchmal habe ich den Eindruck, dass hier auch ein Diversity Washing betrieben wird: Man nimmt sich diesen Stempel und will möglichst divers erscheinen, ist es dann aber gar nicht. Die Kritik an "Germany's Next Topmodel" ist in 18 Staffeln nicht abgerissen und darauf musste die Show reagieren. Was mir zudem in der ersten Folge der neuen Staffel aufgefallen ist: Der Ton in der Jury-Beurteilung hat sich im Vergleich zu früheren Sendungen geändert. Er ist weit weniger harsch und wertend als früher.

Heidi Klum hat zu Beginn der ersten Folge ein zehnminütiges Statement abgegeben: Die Mädchen wüssten, worauf sie sich einliessen, könnten jederzeit aussteigen.

Die Verantwortung liegt immer auch bei denen, die das produzieren. Sie machen es sich zu einfach, wenn sie die Verantwortung auf 17-Jährige abwälzen wollen, die natürlich mit dem Ziel dorthin gehen, erfolgreich zu werden. Ich würde auch stark hinterfragen, ob diesen jungen Frauen die Tragweite bewusst ist, auf welche öffentliche Demütigung sie sich einlassen. Sie können keinen Einfluss darauf nehmen, wie sie gezeigt werden, dürfen nichts autorisieren. Sie treten zu Beginn alle Bildrechte an die Produktionsfirma ab.

"Man darf die Rollen von Heidi Klum und den Juroren nicht unterschätzen"

Warum brauchen wir Diversität überhaupt?

Mit Diversität soll die gesellschaftliche Realität abgebildet werden, was lange Zeit nicht passiert ist. Dabei geht es auch um eine Demokratisierung und das Aufbrechen von Stereotypen in der Unterhaltungsbranche und das ist grundsätzlich ein hehres Ziel.

Warum wurde in Fernsehen, Kino und in den sozialen Medien nicht immer schon das abgebildet, was wir aus unserer täglichen Lebensrealität kennen?

Das hat mit – oftmals unbewussten – Denkmustern zu tun, die bei Produzenten und Produzentinnen, beim Cast, bei Sendungsverantwortlichen verinnerlicht sind. In der Vergangenheit wurde oftmals gar nicht daran gedacht, diversere Menschen zu inkludieren, was auch damit zusammenhängt, wer die Inhalte produziert: Das sind oft weisse heterosexuelle Menschen, die vielleicht weniger Einblick in die Lebensrealität von Menschen haben, die von dieser Norm abweichen. Erst, wenn man Teilhabe ermöglicht, wird automatisch der Inhalt diverser.

Was löst die Diversity bei GNTM bei den Zuschauerinnen und Zuschauern aus – ganz gleich welchen Alters?

Wenn wir Menschen mit unterschiedlichen Figuren und Aussehen sehen, gibt uns das ein breiteres Verständnis davon, was als schön empfunden werden kann – das muss nicht sofort heissen, dass jeder das selbst direkt schön findet. Aber das breitere Angebot von Schönheit ist ein wichtiger Faktor für ein positives Körperselbstbild. Das kann schon kurzfristig positive Effekte erzielen, aber gesamtgesellschaftlich wird sich nicht sofort etwas ändern. Und man darf die Rollen von Heidi Klum und den Juroren nicht unterschätzen: Die haben als Model-Eminenz einen richtungsweisenden Einfluss darauf, wie die Kandidatinnen von den Zusehern und Zuseherinnen beurteilt werden.

Kann die Diversity etwas daran ändern, dass junge Mädchen nicht mehr magersüchtig werden, wenn sie bei GNTM nicht ausschliesslich Size-Zero-Models sehen?

Magersucht entsteht nicht nur durch eine Sendung allein, es gibt viele zusätzliche Faktoren. Ob die Diversity aber tatsächlich weniger schädlich dahingehend ist, würde ich mit Vorsicht geniessen. Denn hier wird auf einer öffentlichen Bühne von erwachsenen Menschen das Aussehen junger Frauen beurteilt. Unter anderem wegen Sendungen wie dieser schreiben Frauen ihrem Aussehen, ihrem Körper eine so grosse Bedeutung zu. Und solange es diese Art von Sendungen gibt, denke ich nicht, dass es zu besseren Effekten kommt, nur weil die Darstellungen diverser sind. Das ist auch meine Kritik an der Body Positivity: Meist steht das Aussehen im Fokus, Menschen werden in sexy Posen und in Reizwäsche gezeigt. Auch wenn dies ein Ausdruck von Empowerment sein kann, am Ende des Tages geht es um Sexiness und Attraktivität. Und dieser Fokus auf das Aussehen ist für das Körperselbstbild nicht hilfreich.

Der Gegenentwurf zur Body Positivity ist die Body Neutrality. Können Sie dazu etwas sagen?

An der Body Positivity stört mich diese Idee: Jeder kann sich lieben und wenn du dich nicht liebst, hast du es nur noch nicht stark genug versucht. Das ist ähnlich wie mit schlanken und fitten Körpern: Jeder kann schlank und fit sein, du musst nur genug dafür arbeiten. Deswegen ist Body Neutrality ein spannender Ansatz, weil es manchmal ein bisschen viel verlangt ist, sich immer zu lieben. Bei Body Neutrality geht es um eine Akzeptanz seines Aussehens und seines Körpers, auch wenn dieser nicht den vorherrschenden Idealen entspricht. So kann man zu einer gewissen Zufriedenheit gelangen und dem Aussehen keine so grosse Bedeutung beimessen. Selbstverständlich soll man sich weiterhin durch Kleidung, Make-up und Frisuren Ausdruck verleihen können – das ist ja auch schön und macht Spass. Aber vielleicht könnte man den Fokus etwas verschieben: Wo möchte ich im Leben noch erfolgreich sein, ausser in meinem Aussehen? Deswegen gibt es diese Bewegung hin zu mehr Neutralität und ich plädiere auch dafür, nicht immer so viele Kommentare übers Aussehen zu machen, wenn man sich beispielsweise mit der besten Freundin trifft. Sondern vielleicht stattdessen auszusprechen, dass man sich darüber freut, sie zu sehen.

"Man kann alle biologischen und gesellschaftlichen Ungleichheiten überwinden – das wird vermittelt"

Bei GNTM gewinnt oft die Kandidatin, die am meisten an sich gearbeitet hat, die grösste Entwicklung durchgemacht und sich am besten optimiert hat. Ist das nicht ein Gegenentwurf zur Diversity, denn wenn alle sich in die gleiche Richtung optimieren, ist ja keine Diversität mehr da?

Das ist ein spannender Punkt. Diese Sendungen vermitteln die neo-liberale Idee, dass man alle biologischen und gesellschaftlichen Ungleichheiten überwinden kann, wenn man nur hart genug und mit viel Entschlossenheit und Fleiss an sich arbeitet. Das ist ein schönes Märchen, das wir gerne glauben wollen, aber ganz so einfach ist es nicht. Dabei werden die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen übersehen – und natürlich auch diejenigen, die für das Casting bei diesen Sendungen zuständig sind.

Alex Mariah Peter hat 2021 GNTM gewonnen. Sie hat schon häufig auf Instagram thematisiert, wenn sie zugenommen hat – wer sie googelt, bekommt sofort vorgerechnet, dass sie seit ihrem GNTM-Sieg 40 Kilo zugenommen haben soll. Kürzlich wurde sie darauf angesprochen, dass sich ihr Körper durch das harte "Let's Dance"-Training verändern wird. Sie sagte: "Es ist wichtig, dass man sich in jeder körperlichen Verfassung zeigt und aufhört, das ständig zu thematisieren oder zu bewerten." Braucht es solche Pionierinnen wie sie?

Ich stimme ihr in ihrer Aussage vollkommen zu und ja, es braucht Pionierinnen wie sie, die sich gegen diese öffentliche Häme und Kritik am Aussehen widersetzen. Leider betrifft dies Frauen noch viel, viel häufiger als Männer. Das heisst nicht, dass Männer ausgenommen sind, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass ein Mann so eine Frage gestellt bekommt.

Gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung?

Frauen werden von klein auf dahingehend sozialisiert, dass es in Ordnung ist, dass sie für ihr Aussehen beurteilt werden und sie schön sein sollen. Beispielsweise bekommen kleine Mädchen häufig Komplimente für ihr Aussehen. Solange Mädchenkleidung bei H&M immer noch kleiner und enger geschnitten ist als Bubenkleidung in derselben Grösse, leben wir in einer Gesellschaft, in der Frauen Aussehen, Attraktivität und Sexiness als bedeutsame Faktoren für ihre Identität zugeschrieben werden – eher als Männern.

Auf der einen Seite würden wir es gerne anders machen, kommen aber durch die Mode immer wieder an diesen Punkt zurück?

Mode ist nur ein Aspekt. Durch Freunde, Familie und Medien bekommen wir Ideale vermittelt, die wir – oft unbewusst – verinnerlichen. Das betrifft auch das Aussehen. Vor allem, wenn wir unrealistische Ideale durch Medien zu sehen bekommen, ist das eine Steilvorlage für Körperunzufriedenheit. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass Frauen unzufriedener mit ihrem Aussehen sind als Männer. Aber die Effekte der Medien sind in der Regel auf Männer und Frauen gleich. Das ist das Spannende.

Also würde GNTM mit Männern stattfinden…

…würde ich davon ausgehen, dass es dieselben Effekte bei Männern gibt wie bei Frauen.

Diese Shows dürfte es also gar nicht mehr geben, damit wir ein anderes Körperbild bekommen könnten?

Solange Frauen oder Menschen generell öffentlich für ihr Aussehen und ihre Schönheit beurteilt werden, werden Schönheit und Aussehen weiterhin eine zentrale Rolle in den Köpfen der Menschen spielen. Wenn man das als Gesellschaft nicht haben möchte, sollte es solche Shows nicht geben. Natürlich wird Aussehen immer eine Bedeutung in unseren Leben spielen – es sollte aber nicht zentrales Beurteilungskriterium für sich selbst und andere Menschen werden.

Beeinflusst Diversity, was wir künftig schön finden werden?

Nicht zwangsläufig, was wir schön finden, aber was wir als normal empfinden. Denn was wir in den Medien gespiegelt bekommen, reflektiert unsere diversere Lebensrealität. Und es ist nicht mehr so ungewöhnlich, verschiedene Körper und Aussehen in verschiedenen Rollen zu sehen. Wenn wir diverse Menschen generell auch in Serien und Filmen in Rollen sehen, in denen sie erfolgreich in der Liebe und im Beruf sind, dann kann das langfristig schon einen Effekt darauf haben, was wir als schön, attraktiv und erstrebenswert ansehen.

Form der Diskriminierung, die auch für manche positiv ausfällt

In Filmen und Serien hat sich da auch einiges geändert. Früher war "Der Dicke" nicht selten der Tollpatschige, der oft keinen Erfolg im Leben hatte. Warum hängt das Aussehen so sehr damit zusammen, wie jemand wahrgenommen wird?

Aussehen und Charakter hängen natürlich nicht zusammen, das ist sozial konstruiert. Nicht nur bei Dicken, auch bei Bösewichten ist das so: Sie sind entstellt, haben visuelle Veränderungen im Gesicht oder Narben – etwa der Joker in den "Batman"-Filmen oder Freddy Krueger oder der Löwe Scar in "König der Löwen" – das fängt ja schon bei Kinderfilmen an. Bei diesen Bösewichten ist nicht nur das Aussehen scheinbar schrecklich und furchterregend, sondern auch deren Charakter. Das ist natürlich eine diskriminierende Assoziation. Deswegen gibt es seit einigen Jahren Kampagnen, Menschen, die etwa Feuermale und Brandnarben haben, auch in anderen Rollen zu zeigen und damit zu sagen "I'm not your Villain", "Ich bin nicht dein Bösewicht". In den Sozialwissenschaften sprechen wir von Lookism oder Lookismus: Die Idee, dass jemand aufgrund seines Aussehens stereotypisiert wird – ins Positive. Oder stigmatisiert – ins Negative. Schönheit und Aussehen werden stark von Zuschreibungen beeinflusst, die wir jeden Tag machen. Attraktivere Menschen verdienen besser, werden als erfolgreicher wahrgenommen, ihnen werden Jobs eher gegeben und auch zugetraut, sie sind in Gehaltsverhandlungen erfolgreicher. Das ist eine Form der Diskriminierung, auch wenn sie – für manche – positiv ausfällt. Das ist kein neues Phänomen.

Das klingt nach einem sehr langwierigen Prozess.

Davon gehe ich aus. Es gibt bereits Bemühungen, diese Diskriminierung einzudämmen und mehr Diversity zu schaffen, auch institutionell: In zahlreichen Ländern, wie beispielsweise Frankreich, Belgien und die Niederlande, gab es Testversuche mit anonymisierten Bewerbungen. Das bedeutet, dass kein Foto des Bewerbers oder der Bewerberin zu sehen ist, damit kein voreiliges Urteil getroffen werden kann. Aber man darf deshalb die Unterhaltungssendungen nicht unterschätzen. Unterhaltung macht einen grossen Teil unserer Freizeitgestaltung aus, weswegen es von Bedeutsamkeit ist, was dort gezeigt wird.

Zur Person: Dr. Kathrin Karsay (35) ist Kommunikationswissenschaftlerin und Assistant Professor an der Universität Leuven in Belgien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienpsychologie, Social Media und Körperbild.
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