Ein Sedcard-Shooting, so haben wir es in all den Jahren "Germany’s Next Topmodel" gelernt, ist das wichtigste Shooting für ein Model. Deshalb schmeisst die Klum in Folge neun ihre Kandidaten auch direkt aus dem Bett ins Foto-Shooting und konfrontiert die schlaftrunkenen Frauen mit einem "bissigen" Fotografen. Am Ende ergibt das die wohl ekelhafteste Folge der aktuellen Staffel.
"In dieser Woche geht es schon vor Sonnenaufgang zur Sache", startet
Kaum in die Privatsphäre der Kandidatinnen eingedrungen, blökt die Klum eines ihrer "Guten Morgeeeen!" ins Dunkel, was ja schon ohne Megaphone schwer zu ertragen ist. Die Models, von Klums Geschrei aus dem Schlaf gerissen, zeigen die einzig richtige Reaktion: "What the Fuck?" Stört die Klum aber nicht, stattdessen flötet sie den Kandidatinnen ein "Ihr seht ja süss aus" in deren schlaftrunkene Gesichter, die sie mit ihren Händen vor dem grellen Kameralicht zu schützen versuchen. Wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht.
Um welche Uhrzeit ist man natürlich?
Aber weil in Folge neun offenbar Ideen-Tag ist, hat sich die Klum eine Begründung für ihre rabiate Übergriffigkeit ausgedacht: "Also ich bin ein absoluter Morgenmensch …", beginnt Klum damit, ihr Problem zu dem der Models zu machen und fährt dann fort: "… und die Idee, meine Models so abzulichten, wie sie direkt nach dem Aufwachen aussehen, finde ich mega. Wann könnte man ihr natürliches Aussehen besser einfangen, als in diesem authentischen Moment?"
Entweder hat es selbst am Ideen-Tag bei Klum nicht für den Gedanken gereicht, dass man "natürliches Aussehen" zu jeder Tageszeit einfangen kann – nur dann halt ohne Augenringe. Oder Klum hält ihre Zuschauer für so dumm, dass die nicht merken, dass es hier wieder nur darum geht, die Show mit ein bisschen künstlichem Drama aufzupeppen. Denn kurz darauf schafft Klum die nötige Fallhöhe, als sie dem Fotografen, den sie für diese Folge gebucht hat, erklärt: "Es ist ja ein ganz wichtiger Tag heute. Heute machen wir das Sedcard-Shooting."
Fassen wir an dieser Stelle kurz zusammen: Die Klum scheucht ihre Schutzbefohlenen im Schlafanzug zu einem Fotoshooting, damit sie dort das angeblich wichtigste Shooting der Show absolvieren müssen, immer mit dem Druck "abliefern" zu müssen. Und das alles im Dienste der Fernsehunterhaltung. Mega Idee. Aber dann wird die Klum ja wohl wenigstens einen Fotografen engagiert haben, der diese ohnehin schon unangenehme Situation nicht ausnutzt, schliesslich sind die Kandidaten ja bis auf wenige Ausnahmen völlig unerfahren. Oder?
Fotograf entgleist mit Toiletten-Witzen
Aber da ja Ideen-Tag ist, hatte die Produktion offenbar den Einfall, jemand ganz Besonderen zu buchen: "Star-Fotograf Yu Tsai fotografiert meine Models für das Sedcard-Shooting und wie jedes Jahr, hat er geniale Tipps und auch bissige Kritik, die ordentlich sitzt." Na, dann wollen wir doch mal gucken, was Heidi Klum unter "genialen Tipps" und "bissiger Kritik, die ordentlich sitzt" so versteht. Kandidatin Lulu hat das Glück, als Erste die segensreichen Ratschläge und die "bissige Kritik" des "Star-Fotografen" geniessen zu dürfen.

Mit einem "Ich muss gross, …" geht der Fotograf in die Hocke, um Lulus Pose nachzustellen und erklärt dann: "Sie hat viele Posen angeboten, die so aussehen, als müsse sie auf der Toilette gross. Ja: Als müsse sie auf der Toilette gross." Nun hätte er der Kandidatin seine Wünsche sicher auch in weniger verletzenden Worten erklären können, aber heute ist ja Ideen-Tag. Und da hatte Yu Tsai wohl die Idee, seine Unverschämtheit mit der vertrauensvollen Verbindung zwischen Model und Fotograf zu erklären: "Ich glaube, dann möchte man auch wissen, wenn es so aussieht, als würde man auf der Toilette sitzen." Ja, oder halt eben nicht.
Aber Yu Tsai hört gar nicht mehr auf mit seinem "Auf-der-Toilette-Foto"-Gefasel, während die Klum im Hintergrund kichert: "Diese Witze sind zu früh für mich am Morgen einfach auch." Bei Lulu hingegen kommen die "Witze" offenbar nicht so gut an: "Dann wurde es ein bisschen respektlos. Konstruktive Kritik bei einem Shooting wäre zum Beispiel gewesen, dass man die Requisiten vielleicht so und so nutzen soll." Ja, so hätten das vielleicht erwachsene Menschen gehandhabt, aber Yu Tsai hat offenbar eine andere Vorstellung von Professionalität. "Egal, wo du willst. Wir haben ein Reinigungsteam hier", erklärt er Lulu am Set, wo sie überall ihr "Toiletten-Foto" machen könne.
"Nur heisse Luft" – was haben wir gelacht
"Sehr herablassend", zieht Lulu ihr Fazit vom Shooting, aber sie ist nicht die einzige, die sich die Unverschämtheiten von Yu Tsai gefallen lassen muss. "Es ist etwas langweilig. Offensichtlich", bekommt etwa Aaliyah zu hören, während der Fotograf Jule wegen ihres Vier-Elemente-Tattoos aufzieht: "Heidi, du hast die Aufgabe, zu erraten, welches Element sie mit ihrer Pose darstellt. Ich sehe Müdigkeit und Trägheit. Feuer, Wind und Erde habe ich noch nicht gesehen. Ich sehe gar nichts." Was für geniale Tipps. Noch genialer wird es nur, als Yu Tsai Jules Lachen nachäfft, und ihr, als sie verunsichert nach dem richtigen Lachen fragt, antwortet: "Ich lache, weil das so lächerlich ist." Manche Menschen spüren Ihre Macht eben erst, wenn sie sie missbrauchen.
"Es ist natürlich schon hart, wenn jemand so mit dir spricht die ganze Zeit", zieht Jule ein ähnliches Fazit wie zuvor Lulu. Und die Klum? Nun ja. Wäre Klum tatsächlich die beschützende und sich kümmernde Model-Mama, die sie immer zu sein vorgibt, hätte sie den Fotografen beiseite genommen und vielleicht Folgendes gesagt: "Pass mal auf, du zynischer Vogel, so reden wir hier nicht miteinander. Du magst vielleicht schon ein paar Stars geknipst haben, aber wir begegnen uns hier mit Respekt. Mag sein, dass das hier keine echte Model-Suche ist, sondern eine TV-Show, aber das, was du hier abziehst, ist unprofessionelle Grütze. Also Schluss damit!"
Macht sie aber nicht. Stattdessen guckt die Klum beim zynischen Treiben des Fotografen zu, kichert und führt Yu Tsais herablassende Elemente-Witze einfach fort: "Jule konnte mich beim Shooting leider gar nicht überzeugen. Da war kein Feuer, keine Erde, kein Wasser. Ich sehe eher nur … heisse Luft." Sich ausgerechnet von Heidi Klum "heisse Luft" vorwerfen lassen zu müssen, ist natürlich schon schlimm genug, aber noch viel schlimmer ist, dass weder Klum noch die Produktion das Verhalten des Fotografen einordnen, den Kandidatinnen erklären, dass so etwas unprofessionell ist und ihnen sagen, wie sie in so einem Fall reagieren sollen.
Nicht die Models sind das Problem, sondern der Fotograf. Oder doch nicht?
Aber so werden Kandidatinnen wie Zuschauer nicht nur mit diesem Zynismus alleine gelassen, nein, er wird sogar noch verklärt. Denn auf wundersame Weise benimmt sich Yu Tsai nicht bei allen Models derart daneben und so kippt langsam die Stimmung, so dass es so aussieht, als sei nicht der Fotograf das Problem, sondern die empfindlichen Models.
Als etwa Lulus Mutter Katrin, die ebenfalls im Wettbewerb ist, den Fotografen zur Rede stellt, will sie am Ende eigentlich alles losgeworden sein, was sie loswerden wollte. In den geschnittenen Szenen sieht man aber lediglich, wie sie kurz ihre Gefühle schildert und nach der Begründung des Fotografen, er habe ihre Tochter ja nicht angeschrien, einknickt: "Dann ist sie empfindlich gewesen. Zu sentimental dann vielleicht", urteilt Katrin plötzlich ganz anders über ihre Tochter.

Für Klum und ProSieben sind die Demütigungen aber ohnehin nichts weiter als Fernsehunterhaltung und so machen alle einfach weiter, als habe man da nicht eben Unprofessionalität, Machtmissbrauch und Rückgratlosigkeit schöngeredet. Stattdessen geht es einfach weiter mit dem Entscheidungswalk, für den man das 1960er-Jahre-Model Twiggy gebucht hat und die Models dementsprechend im Sixties-Style über den Laufsteg schickt.
Jule hat es hinter sich
Die machen das mal gut, mal weniger und so kritisiert die Klum mal hier und mal da. "Du bist nett, immer freundlich – aber wo ist das Interessante an dir?", bekommt etwa Safia von Klum zu hören und das zeigt ganz gut, in welcher Welt die Klum lebt. In einer Welt, in der nett zu sein offenbar nicht interessant ist. In der so zynische Menschen wie Fotograf Yu Tsai angesagt sind, weil sie eben nicht nett sind.

Und so sortiert Klum die Interessanten ins Töpfchen und kann sich bei den meisten weniger Interessanten profilieren, ihnen noch einmal eine weitere Chance zu geben. Am Ende hat lediglich Jule, die als "heisse Luft" Geschasste, das Glück, dieser zynischen TV-Kirmes entkommen zu sein.