Dass bei "Germany's next Topmodel" gar kein Model gesucht, sondern nur TV-Unterhaltung gemacht wird – halb so wild. Dass Heidi Klum mit ihren Botschaften Mädchen und junge Frauen beeinflusst – beunruhigend. Dass sie es damit am Donnerstagabend in Folge zwei übertreibt – schlimm.
Man hätte es ihr fast geglaubt. In der Auftaktfolge der neuen Staffel verkündete
Niemand sollte sich ausgeschlossen fühlen, eine jede willkommen. Die grosse Model-Familie hat ein Herz für jeden und überhaupt habe sich die Branche doch so sehr geändert. Ja, fast hätte man es ihr geglaubt.
Doch dann kommt Folge zwei. "'Inner Strength', also 'Innere Stärke' ist das Motto dieser Woche", erklärt Heidi Klum dort gleich zu Beginn, doch eigentlich lautet das Motto "Liebe Mädchen der werberelevanten Zielgruppe zu Hause, heute erzähle ich euch mal richtig viel Unfug."
Das klingt aber nicht nur zu ehrlich, sondern auch nicht ganz so werberelevant. Und so hält die Klum an ihrem Motto der Folge fest und ergänzt mit dem überstrapaziertesten Wort der Jahre 1996 bis 2021: "Beim ersten grossen Shooting will ich Powerfrauen sehen. Starke, selbstbewusste Mädchen."
Ob sich die Klum diese Stärke und das Selbstbewusstsein auch dann von ihren Mädchen wünscht, wenn diese die Verträge mit der Modelagentur ihres Vaters unterschreiben sollen, sei einmal genauso dahingestellt wie die Frage, ob sich die Klum wirklich weniger Streit in ihrer Show wünscht, wenn sie sagt: "Wer seine Energie für sinnlosen Streit verschwendet, hat oft keine Puste mehr für den Wettbewerb." Die Redakteure der Produktionsfirma dürften da anderer Meinung sein.
Heidi Klum entdeckt angeblich fehlendes Selbstbewusstsein
Streit gehört bei "Germany's next Topmodel" seit der ersten Folge nämlich zum Konzept, wie so vieles andere auch: die unnötig komplizierten Shootings, das Nackigmachen der Models, der Einsatz von Wildtieren, die auffällig unauffällig untergebrachten Produkte der Werbepartner, das ganze Gerummel um Jobs und natürlich das Hurra-Geschnatter der Klum. Bei GNTM hat man sich eben für diese Sorte Fernsehunterhaltung entschieden.
Wenn man den ganzen Zirkus richtig einordnen kann, ist das gaga, aber harmlos. Wenn die Klum das mit der Diversität tatsächlich ernst meint, kann es manchem Heranwachsenden mit Selbstzweifeln vielleicht sogar eine schöne Botschaft sein. Wann aber genau das Gegenteil passiert, zeigt sich, als die Damen ihre neue Unterkunft beziehen.
Die ist eine Art Loft mit in Reihe geschalteten Betten und Heidi-Klum-Porträts an den Wänden. Als die jungen Frauen sich eingerichtet haben, geht die Tür auf und die Klum, oben zebra- unten tigergemustert, kommt mit einer Botschaft herein.
"Eine Sache ist mir wirklich aufgefallen in der letzten Woche. Und das ist: euer Selbstbewusstsein. Da mangelt es wirklich bei Einigen ganz schön", erklärt die Klum den Mädchen, ohne diese zu kennen.
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GNTM: Stark und zurückhaltend? Geht ja gar nicht
Mangelndes Selbstbewusstsein geht aus zweierlei Gründen natürlich gar nicht. Erstens passt es nicht zum Motto der Show und zweitens nicht in die Klumschen Glaubensgrundsätze. Als Model sei man nämlich ein Vorbild für Mädchen oder junge Frauen "und die sagen bestimmt nicht: Oh, ich möchte gerne so schüchtern sein, wie die ist.
Ich möchte gerne so zurückhaltend sein, wie die ist. Nein, ich möchte gerne so stark sein, wie die ist. Ich möchte gerne so cool sein, wie die ist. Oder ich möchte gerne so sexy oder so lustig sein, wie die ist."
Es liegt offenbar ausserhalb der Klumschen Vorstellungskraft, dass auch ein zurückhaltender Mensch stark, lustig, sexy oder cool sein kann. Wenn dieses eingeschränkte Menschenbild nur im Kopf der Klum seine Runden drehen würde – halb so schlimm. Aber die Klum meint es ernst, was die Damen bei ihrem ersten Shooting für die Show-Plakate und das Opener-Filmchen zu spüren bekommen.
Auf die Plakate dürfen zwar alle Mädchen, in das Opener-Filmchen aber nur die, die nicht "langweilig performen", denn "die sind ja nicht wirklich die Werbung für die Sendung." Nein, Werbung für die Sendung sind nur diejenigen, die "richtig toll und stark rüberkommen."
Und was stark ist, hat die Klum ja nun schon mehrfach gesagt. Wenn die Klum also divers werden will, dann gilt das nur für Äusserlichkeiten.
"Germany's next Topmodel": Bitte nicht denken!
Das sind schlechte Nachrichten für Maria, denn die gehörlose junge Frau fühlt sich nicht nur wegen ihres zu tiefen Dekolletés unwohl, sondern auch in der Gesamtsituation: "Während des Shootings hab' ich die Sicherheit eigentlich verloren."
Derart vorbelastet begeht Maria beim abschliessenden Walk auch noch den Fehler, die Designerin höflich zu fragen, ob das Kleid so sitzen soll, wie es sitzt, weil sie augenscheinlich nicht genug Busen für das zugewiesene Kleid mitbringt.
Man könnte das als Eigeninitiative werten, aber die Kleidermacherin antwortet nur: "Als Model muss man schon das anziehen, was einem zugeteilt wird." Sie hätte natürlich auch sagen können: "Ach herrje, da hab' ich gar nicht dran gedacht, dass dir das Kleid auch passen sollte, das ich dir zugeteilt habe" oder "Geht leider nicht anders, aber toll, dass du mitdenkst." Hat sie aber nicht.
Und als Maria dann in dem nicht passenden Kleid laut Jury-Urteil den Walk vermasselt, weil sie nicht genug "Fun" zeigt und deshalb rausfliegt, lauten die Botschaften von Folge zwei: Sei wie die Klum, halt die Klappe und fang bloss nicht an, selbständig zu denken.
Bleibt zu hoffen, dass die Mädchen und jungen Frauen, die dem Treiben zugesehen haben, genug "Inner Strength" haben, diesen Unfug nicht ernst zu nehmen.
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