- Die BBC-Mini-Serie "Die Schlange" folgt der Spur des Serienmörders Charles Sobhraj, der in den 1970er Jahren Rucksacktouristen entlang des sogenannten Hippie-Trails tötete.
- Wir haben mit Angela Kane gesprochen, die gemeinsam mit ihrem damaligen Mann Herman Knippenberg eine tragende Rolle in den Ermittlungen spielte.
In der BBC-Mini-Serie "The Serpent" ("Die Schlange", Netflix), die auf wahren Begebenheiten beruht, geht es um den Serienmörder Charles Sobhraj, der vor rund 45 Jahren Touristen in Thailand, Indien und Nepal tötete. Bis heute ist unklar, wie viele Menschen ihm zum Opfer fielen, allein die thailändischen Ermittler lasten ihm zehn Tötungsdelikte an.
In der Serie wie im echten Leben ist Sobhrajs Gegenspieler der junge niederländische Botschaftsmitarbeiter Herman Knippenberg. Als ein niederländisches Paar als vermisst gemeldet wird, ermittelt dieser auf eigene Faust und sammelt in detektivischer Kleinarbeit Beweise, um den Fall aufzulösen.
Eine tragende Rolle bei den Ermittlungen spielte Knippenbergs damalige Ehefrau Angela. Sie legte nach ihrer Zeit in Thailand eine beeindruckende internationale Karriere hin. Angela Kane leitete im Jahr 2013 die Untersuchung des mutmasslichen Chemiewaffen-Einsatzes in Syrien. Zudem diente sie bis Mitte 2015 als Hohe Vertreterin der Vereinten Nationen für Abrüstung, leitete die grösste und komplexeste Abteilung der UNO.
Kane war zeitweise Vorgesetzte von mehr als 40.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und verwaltete ein Budget von mehr als fünf Milliarden Dollar. Wir haben mit Angela Kane, wie sie mittlerweile heisst, gesprochen.
Frau Kane, Ihre Beteiligung an den Ermittlungen im Fall Charles Sobhraj stellen nur eine Randnotiz in Ihrer beeindruckenden Lebensgeschichte dar. Sind Sie jetzt im wohlverdienten Ruhestand?
Angela Kane (lacht): Das ist eine gute Frage. Ich hatte mich zurückgezogen, weil ich gemeint hatte, mit 67 Jahren muss ich nun nicht mehr so stark im Einsatz sein. Ich hatte praktisch kein Privatleben und habe gedacht: "Du hast dein ganzes Leben lang nur gearbeitet, jetzt kannst du dir ein bisschen Ruhe gönnen." Daher habe ich die UNO verlassen.
Und als ich mich dann in den Ruhestand gesetzt habe, habe ich plötzlich gemerkt: Es fordert mich keiner mehr. Auch die Büroumgebung hat mir gefehlt. Dann bekam ich immer wieder Einladungen, an Vorträgen und Podiumsdiskussionen teilzunehmen, beziehungsweise diese zu halten, und das habe ich sehr gern gemacht. Daraus hat sich plötzlich eine zweite Karriere entwickelt, die natürlich aufbaut auf dem, was ich früher gemacht habe.
Sie sind seit 2016 Mitglied des Universitätsrates der Vereinten Nationen und seit 2019 Vorsitzende des Rates. Zudem sitzen Sie in den Vorständen von NGOs in Europa, den Vereinigten Staaten und Asien. Seit 2016 sind Sie Gastprofessorin an der Paris School of International Affairs/Sciences Po und lehren seit 2019 an der Tsinghua University Schwarzman Scholars in Peking. Kommen Sie bei all Ihren Tätigkeiten dazu, einfach mal nichts zu tun?
Heute Nachmittag unterrichte ich zum Beispiel an der Diplomatischen Akademie hier in Wien. Diese ganzen Lehrtätigkeiten haben sich zu etwas entwickelt, das ich eigentlich gar nicht vorgesehen hatte. Aber es macht mir unglaublich viel Spass. Ich kann nicht stillstehen, ich möchte immer noch etwas dazulernen. Ich könnte mich auch nicht einfach aufs Sofa setzen und einfach nur fernsehen.
Ausser vielleicht, es handelt sich um eine Serie wie "Die Schlange"?
Es hat mir Spass gemacht, die ganze Geschichte nach 45 Jahren durch die Serie wieder einmal aufzuarbeiten. Das war eine spannende Zeit in meinem Leben. Es war das erste Mal, dass ich in einem asiatischen Land war. Ich habe Thailändisch gelernt, habe mir vor Ort sehr viel angeschaut, bin im Land herumgekommen.
In der Serie wird ein Teil Ihrer persönlichen Erfahrungen erzählt. Sie ist vom Look her sehr gut gemacht, die Zuschauerinnen und Zuschauer konnten sich gut einfühlen, wie es in den 70ern in Asien zugegangen sein könnte. Haben Sie sich beim Anschauen der Serie in die Zeit damals zurückversetzt gefühlt?
Die Serie an sich ist natürlich etwas stilisiert. Das Haus, in dem wir damals gewohnt haben, war etwas einfacher als es in der Serie dargestellt wurde. Mein damaliger Mann war der dritte Botschafts-Sekretär, da ist man nicht so grosszügig ausgestattet worden. Elektrizität war damals unheimlich teuer, das einzige Zimmer, welches eine Klimaanlage hatte, war meistens das Schlafzimmer.
Hat sich die BBC nach Ihren persönlichen Eindrücken der Geschichte erkundigt?
Die Produzenten hatten mich relativ spät entdeckt und per E-Mail angeschrieben. Ich war zu dem Zeitpunkt zufällig auf einer Konferenz in London. Wir haben uns dann getroffen und ich habe die Skripte gelesen und sehr kritisch kommentiert. Ich habe das unbezahlt gemacht, weil mir viel daran lag, dass die Geschichte realistisch und faktengetreu dargestellt wird, was nicht immer der Fall war.
Die Zuschauenden haben in der Serie den Eindruck gewonnen, dass Ihr Ex-Mann, Herman Knippenberg, quasi der alleinige Held bei der Aufklärung des Kriminalfalls um Sobhraj war und Sie dabei nur eine Nebenrolle gespielt haben.
Ich habe die Serie etwas früher gesehen, schon vor der offiziellen Veröffentlichung, und war nicht unbedingt glücklich mit einigen der Darstellungen. Alle anderen Schauspieler sahen auch wirklich so aus, wie die realen Charaktere, die sie verkörperten. Die einzige Ausnahme stellt mein Charakter dar. Ellie Bamber ist sicherlich eine gute Schauspielerin. Sie hat die ihr vorgeschriebene Rolle auch bestimmt gut gespielt. Aber weder ihr Aussehen noch ihre charakterlichen Eigenschaften haben gepasst. Ich meine, ich bin als Blondine mit langen Haaren dargestellt worden. Aber in Thailand war es einfach zu heiss, deswegen trug ich kurze Haare. Auch die lange und meist dunkle Kleidung, die Ellie Bamber tragen musste, war falsch. Sowas hätte ich nie getragen, ich war meist ärmellos gekleidet. Ich hatte den Produzenten sogar vorab Fotos geschickt. Ich stamme aus dem Norden Deutschlands. Ich habe immer schon gerne farbige Sachen angehabt, um das Gemüt aufzuhellen.
Wie sind Sie damals als junge Frau nach Thailand gekommen? Was war Ihre Funktion vor Ort? Das wurde in der Serie nicht thematisiert.
Ich hatte Herman noch während meines Studiums geheiratet. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon mehrere Jahre gearbeitet, unter anderem für die Weltbank und den "Spiegel", und ihn praktisch unterhalten, während er studierte. Nachdem er in den diplomatischen Dienst eintrat, war Thailand die erste Station, wo wir im Juni 1975 hingeschickt wurden. Er als Diplomat und ich als Begleitung. Als Frau eines Diplomaten bekommt man keine offizielle Arbeitsgenehmigung. Aber ich war nicht die typische Diplomatenfrau, die sich nur um Haus und Küche kümmerte. Also habe ich Führungen für das Nationalmuseum gegeben, da es an englischsprachigen Führern mangelte, und unterstützte die Botschaft - ohne feste Anstellung wohlgemerkt - beim Übersetzen verschiedener Schriftsätze und Dokumente, da es den Leuten dort an der sprachlichen Kompetenz fehlte. Ich sprach mit meinem ersten Mann ja holländisch, hatte ein deutsch-englisches Dolmetscherdiplom, sprach zudem noch Französisch und Spanisch. Ich war daher alles andere als "nur" die Frau des Diplomaten, wie es in der Serie leider dargestellt wurde. Damals waren arbeitende Frauen noch eine Seltenheit. Das habe ich auf diplomatischen Empfängen und Partys gemerkt. Wenn man sich dort mit mehreren Menschen unterhielt, kam immer recht schnell die Frage, ob man Kinder habe. Sobald ich diese Frage mit "Nein" beantwortete, hatte ich plötzlich nichts mehr zu sagen. Das ist etwas, was mich sehr getroffen hat, woran ich mich immer erinnern werde. Daher habe ich mich immer sehr darum bemüht, nicht in dieses Klischee zu fallen.
Wie kam es dazu, dass Sie und Ihr damaliger Mann in dem Fall ermittelten?
Herman hatte Anfang Februar 1976 von den Eltern des jungen holländischen Paares einen Brief bekommen, da die beiden verschollen waren. Damals war es wahnsinnig teuer, zu telefonieren. Man hatte noch keine Handys und das ganze Informationsnetzwerk war sehr rudimentär. Das Letzte, was die Eltern wussten, war, dass die beiden nach Bangkok reisen wollten. Sie hatten jedoch seit zwei Monaten nichts mehr von ihnen gehört. Daraufhin wurde Herman beauftragt, sich den Fall näher anzusehen.
Wie haben Sie diese Zeit empfunden?
Was für den Zuschauer in der Serie nicht so rüberkommt: Unsere Ermittlungen dauerten nur eine sehr kurze Zeit. Wir haben Anfang Februar begonnen und im Mai hat sich Sobhraj bereits aus Thailand abgesetzt, da war der ganze Spuk schon wieder vorbei. Diese vier Monate waren für uns sehr intensiv. Dadurch, dass mein Mann nicht mehr offiziell daran arbeiten sollte, nachdem die Leichen identifiziert waren, hat sich das Ganze bei uns zu Hause abgespielt. Das heisst, dass ich sehr stark involviert war in dem ganzen Geschehen, was in der Serie nicht unbedingt hervorgehoben wurde.
Was hat Sie an dem Fall so gereizt?
Damals reiste man in der Jugend häufig per Anhalter. Man war vertrauensselig und ging nicht davon aus, dass Menschen einem etwas antun wollen. Ich selbst habe auf meinen vielen Reisen viel Gutes von Menschen erfahren, die ich eigentlich gar nicht gut kannte. Und wenn man dann mitbekommt, dass es andere Reisende gibt, die auf das Gute in den Menschen vertrauen und dann ermordet werden, weil sie ein paar Hundert Dollar an Traveller‘s Cheques (Reisechecks, die als bargeldloses Zahlungsmittel eingesetzt werden können, Anm. d. Red) dabeihaben, das setzt einem dann schon zu. Ich war damals 27 Jahre alt, da ist man alterstechnisch auch noch sehr nah dran, kann sich gut mit den Opfern identifizieren, auch wenn ich nie als Backpackerin gereist bin. Man möchte etwas tun, um das zu stoppen. Vor allem, wenn man weiss, wie grausam diese Menschen ermordet worden sind. Dieses Verlangen war bei meinem damaligen Mann und mir schon sehr stark.
Hermans Obsession für den Fall wurde in der Serie sehr plakativ dargestellt. Entsprach das der Realität?
Er war schon, ich will jetzt nicht sagen besessen, aber er war überzeugt, dass diese Sache zu Ende gebracht und der Mörder gefunden werden musste. Der Botschafter war ja der Meinung, dass seine Arbeit erledigt war, als die Leichen der beiden Niederländer gefunden und die Eltern benachrichtigt wurden. Das konnte mein damaliger Mann nicht akzeptieren. Darin habe ich ihn auch unterstützt. Das fand ich auch nicht richtig. Man tritt nicht zurück von einem solchen Fall, wo man auch so tiefe Eindrücke gewonnen hatte, so viel Fakten erarbeitet hat und sagt, damit habe ich jetzt nichts mehr zu tun. Damit ist der Mörder ja nicht aufgehalten und nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Der Fall war ja noch nicht einmal zu Ende, nachdem Sobhraj aufgegriffen wurde. Die Geschichte hat Herman noch jahrzehntelang beschäftigt und beschäftigt ihn noch weiterhin.
Sie konnten aber loslassen?
Ja. Nachdem der Mann einmal im Gefängnis war, war die Sache für mich vorbei. Für mich war das sehr spannend und aufregend, ich war sehr stolz und zufrieden mit dem, was wir erreicht hatten. Aber das war 1976, wir haben jetzt 2021. Ich hatte das danach nirgends mehr gross erzählt - und dann von verschiedenen früheren UNO-Kollegen Nachrichten bekommen, die die Serie gesehen hatten. Die meinten, sie wussten erst nach der letzten Folge, dass Angela Knippenberg Angela Kane ist. Unter dem Namen Knippenberg kannten mich nur wenige.
Aus heutiger Sicht waren Ihre Ermittlungen richtige Detektivarbeit. Ihre Zivilcourage ist bewundernswert. In der Serie bekommen die Zuschauerinnen und Zuschauer den Eindruck, dass Herman Knippenberg für die Ermittlungen seine Karriere in der Botschaft riskierte. Wie war Ihr Eindruck?
Er konnte nicht loslassen. Es wurde allerdings dramatisiert in der Serie, so schlimm war es nicht. In der Botschaft war damals um 14:00 Uhr schon Feierabend. Man hatte also nachmittags und abends genug Freizeit, um privat an dem Fall weiterzuarbeiten. Und man darf nicht vergessen, dass die Ermittlungen ja nur eine drei- bis viermonatige Angelegenheit waren. In den Episoden wird dargestellt, dass ihm die Ermittlungen langfristig geschadet haben. Diese Meinung teile ich nicht. Ich war ja immerhin noch 13 Jahre mit ihm verheiratet. Und er hat 1977 schon den nächsten Posten bekommen.
Sie sagten, Sie haben mit dem Fall Sobhraj lange abgeschlossen, haben Ihr Leben weitergelebt. In der Serie informiert Ihr Charakter Herman Knippenberg allerdings Jahrzehnte später darüber, dass Sobhraj nach Nepal eingereist ist. Sie scheinen den Fall also trotzdem weiterhin verfolgt zu haben. Wie haben Sie diesen Moment in Erinnerung?
Gar nicht! Meiner Ansicht nach gab es diesen Moment gar nicht. Das letzte Mal, dass ich mit meinem Ex-Mann gesprochen habe, ist knapp 20 Jahre her, als eine gemeinsame Freundin gestorben war und ich gebeten wurde, ihn zu informieren.
Charles Sobhraj ist inzwischen 73 Jahre alt und wird das Zentralgefängnis von Kathmandu wohl nie wieder verlassen. Haben Sie das Gefühl, dass nach all den Jahren, nach all der Arbeit, die Gerechtigkeit gesiegt hat?
Ja, ich meine schon. Die Gerechtigkeit in diesem Fall ist einfach die Tatsache, dass er immer noch im Gefängnis sitzt. Auch wenn er unter etwas günstigeren Umständen festgehalten wird. Er hat sogar die 20-jährige Tochter seiner nepalesischen Rechtsanwältin geheiratet. Er ist nie nach Thailand ausgeliefert worden, denn dort droht ihm die Todesstrafe. Ich würde es allerdings so interpretieren, dass er lieber in Nepal im Gefängnis sitzt, als nach Thailand ausgeliefert zu werden. Wichtig ist beim Thema Gerechtigkeit, dass man im Auge behält, was man verändern, was man besser machen kann, denn man sieht vieles, was nicht gerecht ist im Leben.
Wie ging es für Sie nach dem Ende der Ermittlungen in Thailand weiter?
Wir waren noch etwa ein Jahr in Thailand. Dann wurden wir auf einen Posten in New York versetzt, damit war die Sache vorbei. Sobhraj war untergetaucht. Es startete die Interpolermittlung von Colonel Sompol Suthimai, der Sobhraj auch schlussendlich stellte.
Ist der Kriminalfall um Sobhraj nur eine kleine, trotzdem aber nicht unwichtige Anekdote in Ihrem Leben, da Sie weitaus wichtigere Ereignisse wie die Abrüstung chemischer Waffen in Syrien verhandelt oder internationale Friedensgespräche geführt haben?
Schon damals fand ich es wichtig, tüchtig, gewissenhaft und sehr genau zu arbeiten. Von diesen Eigenschaften habe ich auch in meiner späteren Karriere sehr profitiert. Ich habe an Friedensverhandlungen in Syrien teilgenommen, ein Kapitel des Friedenspakets in El Salvador erarbeitet und mit den dortigen Guerillas gesprochen. Ich war im Kongo und in Äthiopien. Das war ein Highlight nach dem andern. Da hält man sich nicht ewig daran fest, was vor Jahren in Thailand passiert ist.
Was haben Sie für Erkenntnisse und Einsichten aus der Geschichte gezogen, die Ihnen und anderen Frauen auf Ihrem weiteren Lebensweg vielleicht weitergeholfen haben?
Ich wurde immer wieder gefragt: "Hast du denn nie Angst gehabt, wenn du in diesen Situationen warst?" Das hatte ich nicht. Wenn man sich von der Angst beeinflussen lässt, dann ist man gehemmt und dann kann man das, was man tun will, nicht gut ausführen. Das ist schon immer mein Motto gewesen, auch als ich später in wirklichen Gefahrenzonen war während meiner UNO-Tätigkeiten.
Ist es nicht fast schon traurig, dass es aufgrund der Netflix-Serie so ein mediales Echo gibt? Und ihre weltweiten Verdienste, die eine ganz andere Tragweite haben, von den meisten Menschen ungesehen bleiben?
Ja, das finde ich schade. Das wird in der Serie unter den Tisch gekehrt. Aber es ist halt Tatsache, dass das passiert ist. Auf der anderen Seite war das nur der Anfang und ein sehr kleiner Teil meiner Karriere.
Viele Frauen haben das Gefühl, übersehen zu werden, auch Sie haben das erlebt. Trotzdem haben Sie es geschafft. Was haben Sie getan, um nicht übersehen zu werden?
Als ich bei der UNO angefangen habe - und auch noch Jahrzehnte danach -, war es sehr schwierig für Frauen, überhaupt eine gute Karriere zu machen. Ich bin eine der wenigen, die es von der P2-Einstiegsebene auf die höchste Ebene der UNO geschafft hat und dort auch die letzten 14 Jahre geblieben ist. Ich bin zwar relativ früh aufgestiegen, aber ich war auch immer bereit, den Job zu wechseln, immer neue Risiken einzugehen.
Welche Risiken waren das?
Ich hatte insgesamt 15 verschiedene Jobs innerhalb der UNO. Ein gutes Beispiel sind die Friedensverhandlungen Anfang der 1990er Jahre in El Salvador. Der Hauptverhandler hat mich aufgrund meiner Spanisch-Kenntnisse und meines politischen Fingerspitzengefühls angesprochen und gefragt, ob ich Lust hätte, an den Verhandlungen teilzunehmen. Er sagte zu mir, er müsste mit den Guerillas und der Regierung verhandeln. Er braucht jemanden, der ihm Ideen zuliefert. Ich meine, was ist das für eine Jobbeschreibung? Gar keine. Das war schon ein Risiko. Aber den Mut muss man haben, sich das zuzutrauen. Dieser Mut ist bei vielen jungen Frauen noch nicht stark ausgeprägt. Ich habe in den letzten Jahren sehr viel Mentoring gemacht und Frauen zugesprochen: "Ihr müsst euch bewerben, auch wenn ihr nicht 100 Prozent der Voraussetzungen erfüllt. Wenn ihr 60 oder 70 Prozent erfüllt, reicht das, den Rest lernt ihr dann schon." Zum Vergleich: Männer bewerben sich schon bei 40 Prozent erfüllten Voraussetzungen. Das ist etwas, wo sich Frauen viel leichter unterbuttern lassen.
Was haben Sie anders gemacht?
Mir haben Leute gesagt, sie haben sich gewundert, dass ich es bei der UNO überhaupt so weit nach oben geschafft habe, weil ich immer meine Meinung gesagt habe. Ich bin natürlich auch diplomatisch. Man kann nicht immer brüsk mit der Wahrheit herausplatzen oder den Leuten unangenehme Sachen ins Gesicht sagen. Man muss auch ab und zu Abstriche machen und Kompromisse eingehen. Aber man muss auch eine Grundhaltung haben, dazu stehen und diese verteidigen. Ich habe mir immer gesagt, ich will morgens aufstehen, in den Spiegel schauen und sagen: Das hast du deinen Vorsätzen und deinen Prinzipien getreu gemacht. Ich bin nicht willens, faule Kompromisse zu schliessen, die meine Haltung kompromittieren. Das war nicht immer einfach, weil ich mir damit auch Feinde gemacht habe.
Was würden Sie anderen Frauen als Ratschlag für ihre Karriere mitgeben?
Lassen Sie sich nicht unterbuttern! Das findet leider viel zu oft statt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie sind in einer Verhandlung, zehn Männer und drei Frauen. Es wird ein Thema diskutiert und Sie haben eine Meinung dazu und Sie wagen es tatsächlich, diese Meinung zu äussern. Das wird dann vielleicht abgenickt, aber es kommt kein grösserer Kommentar. Und dann kommt plötzlich zehn Minuten später ein Mann und sagt genau dasselbe, vielleicht mit anderen Worten, als Sie das gesagt haben. Dann wird plötzlich darauf eingegangen. Dann müssen Sie sofort eingreifen und sagen: "Vielen Dank, Herr Soundso, dass Sie meine Idee aufgegriffen haben, das finde ich ausgezeichnet, dass Sie das nochmal bestätigen." Sofort nachbuttern, nicht akzeptieren! Ich bin deutlich übergangen worden in Beförderungen und habe mich dagegen gewehrt. Ich habe nicht immer Recht bekommen. Aber auf der anderen Seite hat man aber die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Sein Gegenüber zu fragen: "Mir ist da eine Ungerechtigkeit passiert. Bitte erklären Sie mir das. Wie ist das gekommen?" Und dass man nicht alles so einfach annimmt und akzeptiert, wie viele Frauen das leider oft tun.
Eine letzte Frage, Frau Kane: Sie sind so weit gereist, haben schon die ganze Welt gesehen. Wo würden Sie nach der Corona-Pandemie gerne Urlaub machen?
Einen Sehnsuchtsort, an den ich unbedingt hin muss, habe ich nicht. Ich fahre gerne an Orte, die ich schon kenne, an denen ich auch die Menschen kenne und mit denen ich darüber sprechen kann, was sich zum Positiven verändert hat. Ich könnte mich nicht einfach nur an den Strand setzen, nichts tun und mich ausruhen. Das Wichtigste am Reisen ist, dass man immer noch dazulernt, dass man offen ist für neue Menschen und neue Begebenheiten.
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