Jan Böhmermann ist auf Tour. Doch diesmal nicht mit dem Rundfunk Tanzorchester Ehrenfeld, sondern mit dem E-Scooter. Auf dem fährt der Satiriker in der jüngsten Ausgabe seines "ZDF Magazin Royale" von Köln nach Chemnitz. Immer im Visier: die Wirklichkeit.
Es beginnt in Köln und es beginnt mit einem eher flachen Wortspiel. In der neuesten Ausgabe des "ZDF Magazin Royale", einer Spezial-Folge, fährt Jan Böhmermann auf einem E-Roller durch Deutschland. Von Köln zuckelt der ZDF-Satiriker knapp 600 Kilometer ostwärts nach Chemnitz und nennt das "Deutschland – eine Erfahrung". Damit bewegt sich Böhmermann rhetorisch auf demselben Niveau wie Frisörläden namens "Haargenau" oder "Schnittpunkt".
Aber
Böhmermann: "Ihr guckt meine Sachen im SoWi-Unterricht?"
Die ereignet sich nach knapp 40 Kilometern oder wie es Böhmermann formuliert: "Das ist also Solingen". Dort trifft er eine Gruppe Abiturienten und löst erst dann Begeisterung aus, als die Schüler ihn unter dem Helm und der Sonnenbrille erkennen. Zumindest fast: "Das ist der von der 'heute-show'!" Doch egal, ob "heute show" oder "ZDF Magazin Royale": Woher sie ihn überhaupt kennen, überrascht den Satiriker: "Ihr guckt meine Sachen im SoWi-Unterricht?"
Dann, irgendwo bei Wuppertal, erklärt Böhmermann dann doch den Grund seiner Reise: "Warum ich das mache? Um die Welt nicht immer kleiner werden zu lassen, sondern wieder gross. Darum. Einfach mal reinfahren in die eigenen falschen Annahmen. In die eigene Annahme von Wirklichkeit. Darum. Und was passiert, das passiert und was sich in den Weg legt, legt sich in den Weg. Wie so ein Pflaster sein, das man zu schnell abreisst."
Aber was ist die falsche Annahme Böhmermanns und was die Wirklichkeit? Um die Diskrepanz zwischen beidem nachvollziehen zu können, braucht es ja eine Basis, von der aus man startet. Vielleicht findet man die ja in dem Landstrich, in den es Böhmermann am zweiten Tag verschlägt und da drängt sich ein Realitätscheck aus aktuellem Anlass geradezu auf: "Das Sauerland ist die Gegend, die unseren nächsten Bundeskanzler geprägt hat."
Am Elternhaus von Friedrich Merz
Doch Böhmermann lässt die Gelegenheit, etwas Tiefgang zu bekommen, verstreichen oder vielmehr lässt die Gelegenheit Böhmermann verstreichen. Es passiert, was passiert und manchmal ist das eben nichts. In Arnsberg-Niedereimer etwa trifft er auf Mitglieder des TuS 1910 Niedereimer mit dem Fazit: "Bisschen gequatscht, das war sehr nett." Und auch Brilon, die Geburtsstadt von Bald-Kanzler
Ein wenig mehr scheint Böhmermann in Kassel zu spüren, als ihn eine Radfahrerin fragt: "Sag mal Jan, bist du eigentlich Anti-Kapitalist?" "Ich würd’s mal so formulieren: Ich halte den Kapitalismus für zu Ende erzählt", antwortet Böhmermann, aber die Frage und die Dame, die sie gestellt hat, sind ebenso wenig oder ebenso viel Deutschland, wie die Herren, die sich darüber aufregen, dass Böhmermann mit seinem E-Roller auf dem Gehweg und nicht auf der vielbefahrenen Strasse fährt. "Die Rechtslage ist eindeutig!", erklärt der Mann, als Böhmermann ihn auf die Gefahr für sein Leben hinweist, würde er die Strasse nutzen.
Trotzdem sind die Begegnungen das Spannendste an Böhmermanns Reise, denn hier funktioniert der Abgleich von Annahme und Wirklichkeit am besten. Zum Beispiel in Erfurt. Da fragt ihn ein Mann, warum er vor ein paar Jahren einen Beitrag gemacht hat, in dem er "quasi das ganze Land als Nazi-Bundesland abgestempelt" hat.
Böhmermann antwortet, es sei nicht das ganze Land gewesen, er könne aber verstehen, "dass dich das ärgert, aber es ist echt ein Problem. Ihr habt 30 Prozent Faschos im Parlament." Hier wird Böhmermanns Annahme einmal sichtbar, doch mit dem Mann verschwindet plötzlich die Realität, ohne dass beide Seite miteinander gesprochen hätten.
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Demo im "obszön schönen Gotha": "Was wollt ihr eigentlich?"
Diese Gelegenheit bekommt Böhmermann in Netra, einem nordhessischen Dorf. Da hält ihn ein Mann auf der Strasse an, um seinem Unmut Luft zu machen: "Ich wollte Ihnen mal was sagen. Sie sind in meinen Augen irgendwo das Letzte." Dass er seinerzeit den türkischen Präsidenten Erdogan beleidigt habe, sei ein Skandal, denn damit habe er auch die türkischen Putzfrauen beleidigt, die damals im Betrieb des Mannes gearbeitet hätten.
"Andererseits haben die Kurden sich total gefreut, weil die sich unterdrückt gefühlt haben und gesagt haben: Endlich sagt mal einer, wie wir uns fühlen in der Türkei", versucht sich Böhmermann zu rechtfertigen, doch der spannende Punkt an dieser Episode ist die Annahme Böhmermanns, welche Kritik der Mann wohl äussern wird und welche er dann tatsächlich geäussert hat. "Er hat den rassistischen Part von der Erdogan-Geschichte kritisiert", stellt Böhmermann jedenfalls überrascht fest.
Und so fährt Böhmermann immer weiter. Im "obszön schönen Gotha" trifft er auf eine Dauer-Demo von Reichsbürgern und wundert sich: "Und dann guckst du dir die Plakate an von diesen Typen, die da so stehen, am historischen Markt und denkst so: Was wollt ihr eigentlich?" In Altenburg trifft er sich mit dem Oberbürgermeister, in Erfurt fährt er Kettenkarussell auf dem Rummel, irgendwo verfolgt ihn ein Hund und zwischendurch begleitet ihn ein Journalist der "Süddeutschen" mit dem Fahrrad, ehe der erst den Kilometerschnitt versaut und dann schlappmacht.
"Was, wenn gar nicht alles schlecht ist, sondern nur neu?"
Irgendwann kommt Böhmermann dann tatsächlich an, hat unterwegs 44 Deutschland-Fahnen, 655,6 Kilometer und zwei zerstörte E-Scooter gezählt. Aber was hat man tatsächlich über Deutschland erfahren, als sich Böhmermann Deutschland "erfahren" hat? Gar nicht so wahnsinnig viel. Stattdessen gab es viel Böhmermann auf dem E-Scooter von vorne, von hinten und von der Seite. Gelernt hat man trotzdem etwas und das ist die alte Weisheit, dass Reisen bildet.
Weil man dadurch zwangsläufig die Perspektive ändern muss, weil man mit Leuten ins Gespräch kommt, die Welt in der Welt wahrnimmt und nicht über einen Social-Media-Kanal.
Am Ende hat Böhmermann also das bekommen, was er wollte: den Abgleich seiner Realität mit der der anderen und eine Idee, was man daraus machen kann. Oder wie es der Deutschland-Erfahrer selbst formuliert: "Was, wenn Herausforderungen zu bewältigen sind, Widerstände zu überwinden und Probleme zu lösen? Was dann? Was, wenn gar nicht alles schlecht ist, sondern nur neu oder ungewohnt? Was dann?"