Erst Drogen, dann Demenz - Jenke von Wilmsdorff scheint für seine Selbstversuch-Reportagen keine Grenzen zu kennen. Diesmal jedoch gab es nichts ausser Grenzen für ihn: Denn Jenke von Wilmsdorff war im Knast. Die Zehn-Quadratmeter-Zelle war dabei noch nicht einmal das Schlimmste für ihn.
"Komm, wir hauen ab und brennen durch!", sagt
Und genau diesen Ernstfall will Jenke von Wilmsdorff kennenlernen. Deshalb bezieht er im gestrigen "Jenke Experiment" für zwei Wochen eine Einzelzelle in der Justizvollzugsanstalt Bremervörde in Niedersachsen. Eineinhalb Jahre dauerte es, bis er dieses Experiment vom niedersächsischen Justizministerium genehmigt bekam. Nun also sitzt er dort in einer zehn Quadratmeter grossen Zelle und geht der Frage nach: "Wie geht es wirklich zu in deutschen Gefängnissen?"
65.000 Gefangene, 65.000 Schicksale
Eine Frage, die eine ganze Menge Menschen in Deutschland gerade beantworten können: Knapp 65.000 Menschen sitzen in Deutschland aktuell in einem der 84 Gefängnisse. Der Anteil männlicher Gefangener überwiegt dabei deutlich. Lediglich 4.000 Frauen sind in Haft, hinzu kommen etwa 5.000 Jugendliche. Doch hinter jeder dieser Zahlen stecken einzelne, ganz individuelle Schicksale: Täter, Opfer, Angehörige.
Jenke von Wilmsdorff will genau diese Schicksale erzählen und hat sich, wie schon bei den Drogen- und Demenz-Experimenten zuvor, eine Menge vorgenommen: Bereuen die Täter ihre Taten? Ist Knast für sie wirklich eine Strafe? Wie gehen ihre Opfer damit um? Was bedeutet es für ihre Familie, wenn Papa im Gefängnis sitzt? Wie fühlt es sich an, wenn man unschuldig im Gefängnis sitzt? Wie hart ist Knast wirklich? Wie fühlt es sich an, seiner Freiheit beraubt zu sein? Was bringt Strafvollzug für Opfer und für Täter?
"Das Jenke-Experiment": Viel Holz, viel Verschnitt
Ja, das ist wieder einmal eine Menge Holz, die von Wilmsdorff da in knapp einer Stunde Dokumentation sägen und stapeln will. Und, um es vorwegzunehmen: Er schafft es, aber unter Verlusten. So ein einzelner Selbstversuch in einem Gefängnis gäbe schon genug Stoff her, um eine ganze Dokumentationsreihe zu starten. Aber von Wilmsdorff will, so scheint es, das Thema Gefängnis in all seinen Facetten in eine Stunde packen.
Dazu spricht von Wilmsdorff neben seinem Selbstversuch mit Gefängnisinsassen, den Eltern einer Ermordeten, einer offenen Vollzugsgruppe in der Nähe von Leipzig, der Ehefrau und den Kindern eines Inhaftierten, einem notorischen Verbrecher, der "draussen" nicht alleine klar kommt, dem Anstaltsleiter, einer jungen Wiederholungstäterin, deren Richterin und er besucht eine norwegische Gefängnisinsel, auf der man durch offenen Vollzug statt Gefängnisinsassen "gute Nachbarn produzieren" will.
Für eine tiefgehende Reportage, die auch einmal bei einem Gedanken verweilen und ihn zu Ende denken will, ist das natürlich viel zu viel, weshalb manches nur oberflächlich angerissen wird, anderes dagegen völlig fehlt. Wie zum Beispiel die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, ob Gefängnis abschreckt, zum Ersttäter zu werden oder wie es mit den Tätern nach dem Gefängnis weitergeht. Vor allem das offene Gefängnisprojekt in Norwegen oder das Schicksal der Frau mit ihren drei Kindern, deren Vater in Haft ist, wären zumindest ein paar Minuten Sendezeit mehr wert gewesen.
"Niemand kommt besser raus als er reingekommen ist"
Von Wilmsdorffs Stärken beim "Jenke-Experiment" ist aber nicht das Ausdiskutieren einzelner Aspekte. Das war es noch nie. Von Wilmsdorffs Stärke liegt vielmehr darin, die vielen Facetten, die ein Leben im Gefängnis für alle Betroffenen hat, vor dem Zuschauer auszubreiten und lauter kleine Aha-Erlebnisse zu schaffen. Damit bleibt er zwar immer ein bisschen an der Oberfläche, schafft aber einen guten ersten Eindruck, was Gefängnis alles bedeuten kann – und nichts weniger wollte er.
Das Bild, das Jenke dabei vom Gefängnis zeigt, ist nicht etwa das aus einschlägigen Filmen, in denen Gangs den Knastalltag beherrschen und ein Regime der Gewalt ausüben. Von Wilmsdorffs Bild ist das eines öden und vor allem vergeudeten Lebens hinter Gittern. In dem jeder Tag dem anderen gleicht. Gefängnis als Verwahranstalt, in der man die Zeit totschlägt. "Die Verschwendung von Lebenszeit ist das Schlimmste", wird von Wilmsdorff in seiner Gefängniszeit feststellen.
Und das Zynische daran: Es bringt noch nicht einmal etwas. Denn, so von Wilmsdorffs Fazit, die Täter lernen im Gefängnis nur dazu und befruchten sich gegenseitig im negativen Sinn. Oder wie es eine Richterin ausdrückt: "Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Jugendliche als bessere Menschen aus einem Gefängnis rauskommen als sie reingekommen sind." Ein Satz, der danach schreit, einmal eine breitere Diskussion über den Sinn von Gefängnissen, den Umgang mit Strafe, Rache und Gerechtigkeit anzustossen.
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