Immer mehr Zuschauer wechseln von traditionellen Fernsehsendern zu Streamingdiensten wie Netflix. Eine Studie prophezeit dem linearen Fernsehen in den nächsten Jahren einen massiven Einbruch bei den Werbeeinnahmen. Trotzdem sind TV-Formate wie "Let's Dance" oder "The Masked Singer" immer noch grosse Events, die Millionen Zuschauer vor die Bildschirme locken. Wir haben mit Medienökonom Thorsten Hennig-Thurau über die Zukunft des Fernsehens gesprochen.
Es gibt in der Coronakrise nicht viele Gewinner. Lieferdienste vielleicht, Hersteller von medizinischen Produkten. Und natürlich Streaming-Dienste.
Zwischen 18. März und 7. April legte die Netflix-Aktie um fast 70 Euro auf 352 Euro zu. Zwar veröffentlicht Netflix keine Zugriffszahlen, es ist aber davon auszugehen, dass diese in Zeiten der weltweiten heimischen Isolation stark angestiegen sind. Sicherlich darf sich der Streamingdienst auch über einige Neu-Abonnenten freuen.
Doch schon vor der Krise waren Netflix und Co. im Aufwind. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im vergangenen Herbst ergab, dass die 1.600 befragten Menschen mehr Zeit mit Netflix verbringen als mit jedem anderen linearen Fernsehsender.
Die Studie prophezeit dem linearen TV in den nächsten Jahren einen massiven Einbruch an Werbeeinnahmen. Die Frage, ob das lineare Fernsehen überhaupt noch eine Zukunft hat, ist angesichts der Konkurrenz durch die Streaming-Dienste also durchaus berechtigt.
Junge Menschen legen grossen Wert auf Flexibilität
"Wir Wissenschaftler können nicht in die Zukunft wie in eine Kristallkugel schauen. Aber wenn wir mit Menschen sprechen, kriegen wir mit, dass ein grosses Bedürfnis nach Flexibilität besteht. Vor allem bei jungen Leuten. Das betrifft das ganze Leben, aber insbesondere die Flexibilität bei Bewegtbildunterhaltung", sagt Professor Doktor Thorsten Hennig-Thurau , Medienökonom von der Uni Münster.
Arbeitszeiten variieren immer mehr, die Freizeitmöglichkeiten sind umfangreicher geworden. Immer weniger Menschen wollen um 20.15 Uhr vor dem Fernseher sitzen, um einen Film oder eine Serie anzuschauen. Der Film soll dann starten, wenn es eben passt. "Ich sehe eine grundsätzliche Überlegenheit für die flexiblen Formate, was den Kundennutzen angeht", sagt Experte Hennig-Thurau.
Und doch gibt es immer noch starke Argumente für das lineare Fernsehen. Formate wie das "Dschungelcamp", "Let's Dance" oder "The Masked Singer" haben hohe Einschaltquoten und sorgen für Gesprächsstoff im Freundes- und Kollegenkreis. Bei Twitter entstehen Hashtags zu den Sendungen, das Geschehen wird live kommentiert. Es gibt das Bild eines medialen Lagerfeuers, um das sich die Menschen versammeln. Und diese kollektiven Live-Events wird es auch weiterhin geben, ob in Show oder Sport.
Playlists und Autoplay sorgen für Berieselung
"Es wird darauf hinauslaufen, dass wir eine Blockbusterisierung des linearen Fernsehens haben. Wir werden noch ein paar grosse Formate haben, die man die Event-Blockbuster nennen kann", vermutet Hennig-Thurau. Neben diesen Blockbustern gibt es noch einen "Rettungsanker des Linearen", wie der Professor erklärt. In bestimmten Situationen wollen sich Menschen nämlich berieseln lassen, indem sie beispielsweise nach einem langen Arbeitstag einfach den Fernseher einschalten.
"Aber auch von diesem 'Berieseler'-Kuchen werden sich die Nichtlinearen einen grossen Teil schnappen", glaubt Hennig-Thurau: "Und sie sind schon munter dabei: Die Playlisten von Spotify und das automatische Abspielen der nächsten Serie bei Netflix zielen genauso auf diesen Teil des Marktes wie das Zeigen von Champions-League-Spielen bei Amazon."
Ab 2021 überträgt Amazon Prime Spiele der Königsklasse und macht somit den öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern auch bei den Live-Events Konkurrenz. Zwar haben alle Sender mit Mediatheken oder Plattformen wie "RTL Now" und "Joyn" auf die nichtlineare Konkurrenz reagiert, bisher aber eher halbherzig.
Das lineare TV hat bei den Sendern nach wie vor Priorität
Denn Priorität geniesst bei den grossen Sendern nach wie vor das lineare Fernsehen, das Erfolgsmodell der vergangenen Jahrzehnte. Blockbuster und Erfolgsformate finden noch nicht oder erst nach Ausstrahlung im digitalen Bereich statt. Die Wandlung weg vom linearen Fernsehen hin zu den flexiblen Plattformen scheint aber unvermeidbar. Wird es also in Zukunft still an der medialen Feuerstelle?
"Um das mediale Lagerfeuer brauchen wir uns wohl keine Sorgen zu machen. Denn wir reden doch jetzt schon genauso viel über 'Stranger Things' oder 'Ozark' wie früher über 'Tatort' und 'Wetten, dass..?'. Es ist nicht so, dass uns der Gesprächsstoff ausgeht. Er verlagert sich einfach in die nicht-linearen Inhalte", sagt Hennig-Thurau.
Das Lagerfeuer werde vermutlich digitaler, erklärt der Marketing-Wissenschaftler: "Und es wird wohl eher ein 'Buzz'-Lagerfeuer, im Sinne davon, dass wir uns darüber unterhalten werden, was kommt und was neu ist, weniger darüber, was wir gemeinsam gesehen haben. Ein 'Sag mir mal, was du gesehen hast? Ich will das auch sehen.' wird an die Stelle des montäglichen 'Hast du auch den Tatort gesehen?' rücken. Aber auch für das gemeinsame Streamen von nicht-linearen Inhalten gibt es inzwischen eine App: Mit 'Netflixparty' kann man eine Serie oder einen Film auch getrennt gemeinsam schauen. Und das Beste: Das funktioniert sogar in Zeiten von Corona!"
Die Netflixparty-App ist eine kostenlose Erweiterung für den Google-Browser Chrome, die das synchronisierte Anschauen von Netflix-Inhalten mit Freunden inklusive Chat-Funktion ermöglicht. Und die dafür sorgen könnte, dass das mediale Lagerfeuer auch in einer Zukunft, in der das lineare Fernsehen weiter an Bedeutung verliert, immer noch brennt.
Quellen:
- Experten-Interview mit Prof. Dr. Thorsten Hennig-Thurau, Universität Münster
- „Quo Vadis, deutsche Medien?“ Studie zur Zukunft deutscher Medien der Uni Münster in Verbindung mit Roland Berger
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