Im September ist Dr. Leon Windscheid in zwei ZDF-Formaten zu sehen. In "Terra X: Weltstädte" bereist der TV-Psychologe und Autor die Metropolen New York, Istanbul und Paris, in "Terra Xplore" befasst er sich mit toxischer Männlichkeit.

Ein Interview

Herr Windscheid, Sie sind für das Format "Terra X: Weltstädte" (ab 8. September um 19:30 Uhr im ZDF) in drei Metropolen gereist: New York, Istanbul und Paris. Welches Erlebnis hat Sie am meisten überrascht?

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Leon Windscheid: Da muss ich sofort an eine Rapperin denken, die ich in der Bronx getroffen habe. Diese über 50-jährige Frau hat sich richtig hochgekämpft und bringt heute jungen Menschen Hip-Hop bei. Eines Abends haben wir mit ihr eine "Garage" besucht, in der die ganze Community zusammenkommt. Wir sprechen hier von einer sehr armen Ecke in New York, in der hauptsächlich Menschen mit wenig Geld leben. Auf der einen Seite war der Kontrast zu den millionenschweren Skyline-Appartements am Central Park riesig, die ich noch einen Tag zuvor mit einem deutschen Makler besucht habe. Auf der anderen Seite hat diese Rapperin ein ähnliches Mindset gefühlt und ausgestrahlt wie der besagte Makler. Nämlich: Hier kann man es schaffen und ich lasse mich nicht unterkriegen!

"Der Deutsche neigt dazu, sich über alles zu beschweren."

Waren Sie so überrascht, weil Sie dieses "Hier kann man es schaffen"-Gefühl aus Deutschland so nicht kennen?

Ja, der Deutsche neigt dazu, sich über alles zu beschweren und zu nörgeln. In New York hingegen, eine Stadt, die von Hungersnöten über Brände bis hin zu sozialen Unruhen schon so viel durchgemacht hat, ist die Denkweise eine ganz andere. Die Menschen sind davon überzeugt, dass sie es weiter bringen können, wenn sie sich nur genug anstrengen. Sie haben einen ganz anderen Blick aufs Machen, Schaffen, Tun. Vor dem Hintergrund der Diskussionen hierzulande rund um die Themen "4-Tage-Woche", "Work-Life-Balance" und Co. war es für mich als Deutscher sehr spannend, diese Einblicke zu erhalten.

In Paris ist die Stimmung, wenn nicht gerade Olympische Spiele stattfinden, eine andere. Haben Sie das am eigenen Leib zu spüren bekommen?

Leon Windscheid
Leon Windscheid auf der Liebesschlösserbrücke Pont des Arts. © ZDF/Yannick Rouault

Wir haben bewusst rund um den 1. Mai, also dem Tag der Arbeit, in Paris gedreht. Es ist ja bekannt, dass Frankreich ein Land der Streiks und Demonstrationen ist. An diesem Tag war auf den Strassen noch mehr Polizei unterwegs. Es wurden Böller gezündet, es knallte gefühlt an allen Ecken. In einer Szene, die in dem Film zu sehen ist, zucke ich zusammen – inmitten von Hundertschaften sowie gepanzerter Polizei- und Wasserwerfer-Autos. Einerseits war alles auf Konfrontation aus, andererseits wirkte die Stadt – so komisch es klingen mag – auch friedlich.

Wie meinen Sie das?

Diese "Wir stehen hier für unsere Rechte ein"-Kultur hat mir dieses Gefühl vermittelt. Die Menschen lehnen sich gemeinsam gegen "die da oben" auf. In Paris spürt man das ganz besonders. Ich habe diese Reisen nicht als Historiker, sondern als Psychologe angetreten. Mein Ziel war es, in die Kultur und die Seele der Städte einzutauchen. Ich wollte begreifen, wie die Menschen, die in diesen Metropolen leben, wirklich denken und fühlen.

In "Terra Xplore" (am 8. und 15. September sowie 6. Oktober jeweils um 18:30 Uhr im ZDF) widmen Sie sich einem ganz anderen Thema: Es geht um toxische Männlichkeit. Wann ist denn nun ein Mann ein Mann, um die Frage mit dem Song von Herbert Grönemeyer zu stellen?

Wenn wir diesen Song aus dem Jahr 1984 als Mass der Dinge nehmen, dann stellen wir fest, dass über diese Frage seit nunmehr 40 Jahren diskutiert und gestritten wird. Mein Eindruck ist, dass sich dieser Streit aktuell auf dem Höhepunkt befindet. Die Fronten sind total verhärtet. Während die einen darauf bestehen, dass ein Mann hart zu sein und das Geld nach Hause zu bringen hat, wollen die anderen diese patriarchalischen Strukturen aufbrechen. Ich glaube, dass wir mit diesem engen Bild von Männlichkeit in der Vergangenheit einen grossen Fehler gemacht haben.

An welche Stereotypen denken Sie dabei?

Traditionell betrachtet sind es die klassischen Denkweisen, wie ein Mann zu sein hat: Demnach muss er hart sein und darf keine Gefühle zeigen, denn das ist nur was für Frauen und "Weicheier". Ein Mann hat mit seinem Fleisch am Grill zu stehen und Fussball zu schauen. Und hört mir auf mit Gender-gerechter Sprache! Dieses Bild von Männlichkeit ist über Jahrtausende hinweg gewachsen. Erst wenn wir anerkennen, dass diese Stereotypen nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern geschadet haben, kann ein neues Bild entstehen.

"Irgendetwas 'im Mannsein' führt anscheinend dazu, dass wir fünf Jahre früher sterben"

Inwiefern hat das von Ihnen beschriebene Bild von Männlichkeit auch den Männern selbst geschadet?

Die grosse Mehrheit der Gefängnisinsassen sind männlich. Im Bereich der Suchterkrankungen liegen wir Männer ganz weit vorne. Wir sterben im Durchschnitt fünf Jahre früher als Frauen. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe eine Krankheit, durch die die Hälfte unserer Gesellschaft fünf Jahre früher sterben würde als die andere: Da wäre die Hölle los. Ich möchte damit natürlich nicht sagen, dass Männlichkeit eine Krankheit ist. Aber irgendetwas "im Mannsein" führt anscheinend dazu, dass wir fünf Jahre früher sterben. Doch darüber wird überhaupt nicht diskutiert.

Was entgegnen Sie denjenigen, die diesen Unterschied mithilfe der Biologie zu erklären versuchen?

Die Behauptungen, dass es in der Natur des Mannes liegen würde, höre ich häufig. Es gibt eine sehr spannende Studie, die sich mit Nonnen und Mönchen in katholischen Klöstern beschäftigt hat. Diese Menschen leben sehr ähnlich. Hier verschwindet der Unterschied, Frauen und Männer werden quasi gleich alt. In der Psychologie schliessen wir daraus, dass es also nichts mit der Biologie des Mannseins zu tun hat, sondern mit der Art und Weise, wie Männer sich verhalten. Dazu gehört aber auch der Aspekt, wie die Gesellschaft mit Männern umgeht. Fakt ist, dass sich Männer deutlich ungesünder ernähren, eher Drogen konsumieren und häufiger in Autounfälle verwickelt sind. Auch Suizid dürfen wir hier nicht ausklammern. Drei von vier Suiziden werden von Männern begangen – weil sie sich eben keine Hilfe holen und es als Schwäche ausgelegt wird, zum Arzt zu gehen. Dieses Mindset ist in vielen Köpfen fest verankert.

Was ist zu tun?

Es darf weiterhin "echte Kerle" geben. Wenn ein Mann am Grill stehen möchte, nicht gendern will und lackierte Fingernägel nur bei Frauen schön findet, dann ist das völlig in Ordnung. Dann ist es eben sein persönliches Bild von Männlichkeit. Wir würden aber etwas gewinnen, wenn wir diesen Horizont erweitern und jene Männer, die es für sich ganz anders definieren, ebenso respektieren und akzeptieren.

"Ich bin gerne Mann, aber ..."

Leon Windscheid plädiert für das Beste aus beiden Welten

Sind Sie ein "echter Kerl"?

Ich bin gerne Mann. Ich bin heterosexuell. Ich mag, dass ich einen Bart habe. Ich mag, dass ich ein relativ breites Kreuz habe, hätte aber gerne mehr Bizeps. Mich ärgert es, dass mein Haupthaar immer lichter wird. Ich beschäftige mich also mit klassischen "Männerthemen". Gleichzeitig merke ich aber, dass ich enorm viel dazugewinne, wenn ich mich an dem bediene, was wir als typisch weiblich bezeichnen. The Best of Both Worlds!

Welche "typisch weiblichen" Eigenschaften und Denkweisen bereichern Ihr Leben?

Zum Beispiel habe ich kein Problem damit, mich mit meinen Emotionen zu beschäftigen. Ich gehe auch zur Vorsorge, denn das ist keine Schwäche. Mir ist es wichtig, mich um Beziehungen zu kümmern. Ich darf und sollte auch Care-Arbeit gegenüber meinen Kindern – falls ich eines Tages Vater werden sollte – und vielleicht auch irgendwann gegenüber meinen Eltern übernehmen. Für mich sind das Pluspunkte, die mein Leben bereichern.

Warum tun sich viele Menschen so schwer damit, diese Pluspunkte zu erkennen?

In dieser "Wann ist ein Mann ein Mann?"-Diskussion fehlt mir, dass wir auch mal die positiven Geschichten erzählen. Wir sollten mehr darüber sprechen, wie viel es zu gewinnen gibt. Stattdessen beschweren sich viele Männer über die Frauenquote, weil sie diese als ungerecht empfinden. Nach dem Motto: "Was kann ich denn dafür, das ich ein Mann bin? Jetzt kriege ich keine Führungsposition mehr." Männer haben ständig das Gefühl, dass man ihnen etwas wegnehmen will. Oder nehmen wir die Gender-Debatte: Männer wollen es gerne klar und einfach haben. Das wird ihnen durch das Gendern vermeintlich weggenommen. Und dann sollen sie sich auch noch um die eigenen Kinder kümmern, wenn sie schon 40 Stunden in der Woche arbeiten gehen und das Geld nach Hause bringen müssen.

Können Sie diese Ängste ein Stück weit nachvollziehen?

Ja, das kann ich. Wobei ich weit davon entfernt bin, Männern die Opferrolle zuzugestehen. Das Problem geht schon von uns aus. Aber zumindest sollten wir verstehen, dass es viele Bereiche gibt, in denen die Gesellschaft Männer auch überfordert und sehr viel von uns verlangt. Wenn wir das nicht anerkennen, werden wir auf dem Weg zu einem gesünderen Männlichkeitsbild vermutlich viele verlieren.

"Wer wird Millionär?": Warum es keine gute Idee ist, Günter Jauch "hochzuwuchten"

Dass Sie eher ein Gewinnertyp sind, haben Sie 2015 mit Ihrem Millionengewinn bei "Wer wird Millionär?" bewiesen. Die Quizshow feiert in diesem September 25-jähriges Jubiläum. Wie häufig denken Sie noch an den Moment zurück, der Ihr Leben verändert hat?

Dieser Moment ist nach wie vor sehr präsent, auch wenn er schon fast zehn Jahre zurückliegt und ich in der Sekunde des Gewinns wahrscheinlich nicht einmal mehr gewusst hätte, wie meine eigene Mutter heisst (lacht). Ich erinnere mich aber noch daran, wie ich aufgesprungen bin, Günther Jauch an den Kniekehlen gepackt und hochgewuchtet habe. Eine sehr schlechte Idee übrigens, weil er aufgrund seiner Grösse doch schwerer ist, als er im Fernsehen aussehen mag.

Wie hätte Ihr heutiges Leben ohne den Gewinn wohl ausgesehen?

Ich bin damals als Doktorand zu "Wer wird Millionär?" gegangen – mit einem unterschriebenen Arbeitsvertrag bei einer Unternehmensberatung samt dickem Gehalt und Firmenwagen in der Tasche. Alle Leute aus meinem näheren Umfeld haben mir davon abgeraten. Ohne den Millionengewinn kleinreden zu wollen: Wenn ich dem Geld und Günther Jauch für eines dankbar bin, dann dafür, dass ich den Mut gefunden habe, einen anderen Weg einzuschlagen. Etwas zu machen, was mich viel mehr antreibt und reizt – nämlich Wissenschaftskommunikation und Psychologie.

Um den Bogen zu Ihren "Weltstädte"-Sendungen zu schlagen, stelle ich Ihnen zum Abschluss dieses Interviews eine Millionenfrage, die tatsächlich gelöst wurde – allerdings noch nicht von Ihnen. Sind Sie bereit?

Klar. Ich verspreche auch, nicht zu googeln.

Die Entfernung von der Hauptstadt Berlin zum Erdmittelpunkt ist ungefähr so gross wie zwischen Berlin und … a) Tokio, b) Kapstadt, c) Moskau oder d) New York?

Ich erinnere mich tatsächlich an diese Frage und daran, wie ich begonnen habe zu rechnen. Ich bin zunächst vom Erdumfang ausgegangen und habe daraus rückgeschlossen, wie weit es von Berlin bis zum Erdmittelpunkt sein müsste. In meiner Erinnerung komme ich auf rund 6.000 Kilometer, was auch ungefähr der Entfernung zwischen Berlin und New York entsprechen dürfte. Daher sage ich: New York.

In der Sendung wurde die Frage gelöst von Thorsten Fischer, ein Jahr vor Ihrem persönlichen Gewinn. Und nun haben Sie auch diese Millionenfrage erfolgreich gemeistert. Vielen Dank für das Interview.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Leon Windscheid ist ein deutscher Psychologe, Wissenschaftskommunikator und Autor. Im Jahr 2015 gewann er als elfter Kandidat in der Quizshow "Wer wird Millionär?" eine Million Euro. Heute teilt der 35-Jährige seine Passion für die Psychologie in Büchern, Podcasts sowie TV- und Bühnenshows mit seinem Publikum. Im September und Oktober ist Windscheid in den ZDF-Formaten "Terra X: Weltstädte" und "Terra Xplore" zu sehen, ehe er ab November mit seinem neuen Live-Programm "Alles perfekt" unterwegs sein wird.
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