Vor vier Jahren wurde die letzte Staffel von "Big Brother" ausgestrahlt. Das Format schien für immer erledigt. Seit einer Woche läuft die Show nun auf dem Spartensender Sixx. Viel geändert hat sich nicht. Offenbar wird es noch lange dauern, bis dem deutschen Fernsehen tätowierte Fitnessfreaks ausgehen.
"Big Brother" ist zurück. Nach Zwischenstationen auf diversen Sendern ist die Mutter aller Reality-Shows jetzt auf ProSiebens Frauensender Sixx gelandet. Hier soll sie neue Zuschauer ansprechen. Hat die Fernsehwelt darauf gewartet? Sicher nicht. Funktioniert es trotzdem? Natürlich. Bekannter Name plus Exhibitionismus ergeben konstante Quoten über dem Senderdurchschnitt. Das mag daran liegen, dass sich die Experimente im überschaubaren Rahmen halten. Die Kandidaten sind von gewohntem Kaliber. Körperoptimierung jeglicher Art war offenbar Castingvoraussetzung Nummer eins. Tätowierungen, Piercings, aufgepumpte Muskeln und Brüste: Es ist, als liesse sich "Berlin - Tag & Nacht" beim Betriebsausflug filmen.
Natürlich sind das nur Oberflächlichkeiten, Klischees. Die Kandidaten indes bemühen sich redlich, sie möglichst schnell zu bestätigen. Lusy zum Beispiel will beweisen, dass sie nicht dumm ist. Und trägt dazu in der ersten Folge ein Oberteil, das bis zum Bauchnabel ausgeschnitten ist. So ein grosses Gehirn muss schliesslich atmen. Manuel, Typ exotischer Meister Propper, ist nicht ganz so subtil: "geile Ärsche" will er im Haus sehen. Dazu kommen die Kandidaten, für die alles eine "grosse Erfahrung" ist: "Ich will mich selbst finden. Und vielleicht finde ich auch noch etwas anderes", sagt Asa, eine Blondine in quietschbunten Retrokleidchen. Das "Andere" ist eigentlich schon in ihrem Leben. Sie sieht Elfen, die sie begleiten.
Neue Ideen für eine alte Show
Alles wie gehabt also, könnte man meinen. Doch 15 Jahre nach der ersten Staffel von "Big Brother" ist keiner mehr unbedarft. "Echtes Leben" darf niemand bei dieser seelischen Peepshow erwarten. Die treudoofen Sprüche von Zlatko Trpkovski, seine Männerfreundschaft zu Jürgen Milski wird es in der Neuauflage nicht geben. Bereits nach einer Woche ist klar: Hier spielt jeder eine Rolle. Die meisten Kandidaten kennen sich von ihren Social-Media-Profilen. Im Haus ist eine Selfie-Kamera installiert. Der schnelle Ruhm winkt heute im Netz. Wer am meisten Likes kassiert, ist ein Star, so der Irrglaube.
Dabei gibt sich der kleine Sender Sixx alle Mühe, dem totgeglaubten Format neben dem üblichen Nominierungsverfahren einer Elektroschocktherapie zu unterziehen. Per Zwang sind die zwölf Kandidaten in Zweierteams aufgeteilt, ständig wechseln sich Aufgaben und "Challenges" ab, damit der Zuschauer ja nicht merkt, wie ereignislos so eine TV-WG ist. Ein Teilnehmer muss gar die erste Woche in einer Art überdimensionierten Vogelkäfig verbringen. Selbst Moderator Jochen Bendel, der Jahre in der zweiten Reihe des Formats versauerte, ist eine Wohltat im Vergleich zum farblosen Kollegen der Promi-Variante auf Sat.1. Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Big Brother" 2015 eine Show ohne jegliche Authentizität ist. Eine Plattform für Selbstdarsteller, die nichts anzubieten haben ausser sich selbst. Die stetig auf der Suche nach der Bestätigung sind, sie seien etwas Besonderes. Wird das in Frage gestellt, bröckelt die Fassade. Wie am Sonntagabend.
Bloss nicht sein wie die Anderen
Feenjägerin Asa und der selbsternannte Bösewicht Hans-Christian geraten aneinander. Sie wirft ihm vor, er sei "gewöhnlich" und hat damit offenbar seinen wunden Punkt getroffen. Er, der mit Weihnachtsmannbart und Tätowierungen der Welt entgegenschreit: "Ich bin etwa Besonderes!", und doch nur aussieht, wie jeder zweite Hipster in Berlin Friedrichshain. Empört zählt er auf, was man ihm seiner Meinung nach alles vorwerfen könne: aggressiv, unbeherrscht, arrogant, aber "gewöhnlich", das könne er nun wirklich nicht sein.
Asa lässt sich nicht umstimmen. Hans-Christian bleibt sprachlos zurück. Niemand will schliesslich zugeben, dass andere Menschen einen selbst nicht so wahrnehmen, wie man es sich wünscht. Diese kurze Szene verdeutlicht, wofür die Neuauflage von "Big Brother" im Kern steht: den individuellen Versuch aussergewöhnlich zu sein, einzigartig. Und das Unvermögen einzusehen, dass das nur die wenigsten von uns sind.
Die Realität verbirgt sich nur hinter ein paar billigen Requisiten
Für einige Wochen erlaubt es die Überwachungsshow seinen Insassen, diese Erkenntnis zu verdrängen, die Illusion irgendwie zu erhalten. Wie fragil dieser Zustand ist, erlebt Hans-Christian in der Live-Sendung am Dienstagabend. Er wird ins Studio gerufen und der Zuschauer sieht, dass zwischen dem Fernsehknast und der Welt da draussen nur ein paar Schritte liegen. Und dass das Zuhause des selbsternannten Bösewichts für die nächsten Wochen nur aus ein paar billigen Requisiten besteht.
Hans-Christian indes ignoriert das Offensichtliche. Das Studiopublikum johlt, er winkt, geniesst den Augenblick. Endlich ist er der, für den er sich bisher nur selbst gehalten hat. Der wirklich wichtigen Frage wird er sich trotzdem stellen müssen. Sein "Big Brother"-Partner Tim hat sie bereits am Anfang der Show gestellt: "Was mach ich nur mit meinem Leben, wenn ich nach Hause komme?" Hans-Christian hat in in den nächsten Wochen viel Zeit, um darüber nachzudenken.
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