Düstere Nebelwälder, verzweifelte Religionsfanatiker und zerrüttete Familien - nach der Sommerpause schlittert der "Tatort" in der ARD mit harten Themen direkt in die Herbstdepression. Doch der Saisonauftakt "Geburtstagskind" aus der Schweiz ist gerade wegen seiner schonungslosen und stimmungsvollen Bilder sehenswert.
Wie nervenzerfetzend ist die Spannung?
Nervenzerfetzend? Fehlanzeige. Der "Tatort"-Saisoneinstieg des SRF wirkt anfangs wie der reinste Nervenbalsam. Aber Vorsicht, lassen Sie sich von den langen Einstellungen und unterkühlten Dialogen nicht einlullen. Denn unter der ruhigen Oberfläche brodelt subtile Spannung, die mit jedem Handlungsschwenk heisser wird. Die Schein-Idylle der Familie Halter geht in einem gnadenlosen Sog aus Misstrauen, Gewalt und religiösem Wahn unter – eine Familie, in der jeder seine Leiche im Keller hat. So entfaltet der Krimi aus dem beschaulichen Luzern seine Wirkung langsam, aber umso wuchtiger. Wer auf oberflächliche Action und Spannung steht, muss sich eben bis zum nächsten Schweiger-"Tatort" gedulden.
Ergibt das alles Sinn?
Mitgliedern einer christlichen Sekte ist alles zuzutrauen, das will uns zumindest Drehbuchautor Moritz Gerber weiss machen. Folgt man dieser Logik, sind die Motive des religiös verblendeten Stiefvaters Beat Halter (Oliver Bürgin) nachvollziehbar, wäre er nur nicht gar so holzschnittartig angelegt: Scheinheiliger Radikal-Christ, dem für die Rettung einer verlorenen Seele jedes Mittel recht ist. Kennt man irgendwie. Aber auch der leibliche Vater des Mordopfers ist ein Getriebener, nicht von der Religion, aber von der Liebe zu seinen Töchtern, die getrennt von ihm leben. Und Marcus Signer spielt den gutherzigen, aber unberechenbaren Hitzkopf Kaspar Vogt eindringlich und glaubwürdig.
Braucht man das Drumherum?
Teenager-Schwangerschaft, religiöser Fanatismus, sexueller Missbrauch, Sorgerechtstreitereien – in diesem "Tatort" kommt mal wieder ganz schön was zusammen. Aber die einzelnen Themen treten dramaturgisch geschickt erst nach und nach ans Licht, so dass der Krimi mit jeder Enthüllung neue Schuldfragen aufwirft und die Spannung langsam steigert. Grösster Trumpf der "Tatort"-Folge sind die stimmungsvollen, meditativen Bilder, in die die Handlung eingebettet ist: Es gibt kaum etwas trostloseres als einen verlassenen Camping-Platz im Herbst, und in den vernebelten Bildern von Regisseur Tobias Ineichen kommt diese Szenerie wunderbar desolat rüber. Man kann das feuchte Laub und die modrige Wohnwageneinrichtung geradezu riechen. Nach diesem "Tatort" werden Sie die letzten Sommerwochen des Jahres garantiert umso intensiver geniessen.
Würde man diese Kommissare im Notfall rufen?
Nur im Notfall? Ach was, diese Gesetzeshüter helfen Ihnen auch schon beim kleinsten Anflug einer Herbstdepressionen. Bei den Schweizer Kommissaren können Sie sich getrost ausheulen. Wie sich Liz Ritschard (Delia Mayer) mit konstant sorgenvollem Blick das Vertrauen der Mitschülerinnen des Mordopfers verdient und Kollege Reto Flückiger (Stefan Gubser) sich wortkarg mit dem Hauptverdächtigen anfreundet und dieser sich prompt beim Ermittler das Herz ausschüttet. So viel Mitgefühl hat man bei "Tatort"-Kommissaren selten gesehen.
Wie fies sind die Verbrecher?
Ziemlich fies. Aber erst auf den zweiten Blick, denn der oberflächliche Saubermann wird – wie leider viel zu oft im "Tatort" – als wahrer Unmensch demaskiert: Der anfangs überfürsorgliche Familienvater und dauerbetende Super-Christ entpuppt sich als wahnsinniger Choleriker, der seine Frau verprügelt und dem auch sonst so ziemlich alles zuzutrauen ist - aber auch der Mord an seiner 14-jährigen Stieftochter? Und dann ist da der leibliche Vater Kaspar Vogt, ein trinkender Campingplatz-Bewohner mit krimineller Vergangenheit, der alles tut, um seinen Töchtern wieder näher zu kommen. Dabei schreckt er auch vor Gewalt nicht zurück - aber wo sind seine Grenzen?
Muss man das sehen?
Ja. Trotz des anfangs gemächlichen Tempos und der klischeehaft überzeichneten Religionsfanatiker ist dieser Krimi ein Lichtblick aus Luzern, der die Serie einiger zuletzt schwacher Auftritte der Schweizer beendet. Auch wegen seiner unterschwelligen Dramaturgie und dichten Atmosphäre: Mit "Geburtstagskind" ist dem "Tatort" ein leiser, aber packender Einstand in die neue Saison geglückt.
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