Misshandlung, Vernachlässigung und Überforderung - in der Pflegebranche sind sowohl Pflegekräfte als auch Heimbewohner die Verlierer. Auf der Gewinnerseite stehen nur die Einrichtungen, die ihre Gewinne schamlos zu maximieren wissen – oder die Pflegedienste, die im grossen Stil betrügen. Es geht dabei um Millionensummen, deckt das Team um Günter Wallraff auf.
Gewinnspannen wie im Drogenhandel, aber ohne das Risiko. Stephan van Dassel, Berliner Bezirksstadtrat für Soziales und Bürgerdienste, nennt das derzeit wohl lukrativste Verbrechen in Deutschland beim Namen: Es ist der Betrug mit Pflegezuschüssen. Rund 30 Millionen Euro werden seiner eher konservativen Schätzung zufolge jedes Jahr in Deutschland erschlichen, indem betrügerische Pflegedienste rüstige Rentner in schwer pflegebedürftige Patienten "umfrisieren". Was zu fantastisch klingt, um wahr zu sein, bannt das Team Wallraff in seiner zweiten Reportage für RTL auf Film.
Vom Sportler zum Pflegefall
Der 71-jährige Enthüllungsjournalist
So wird der topgesunde Wallraff alias Waldemar zum anspruchsvollen Pflegefall, für den der mit Bestnoten ausgezeichnete Dienst monatlich 1.600 Euro veranschlagen kann – Waldemars vermittelnde Tochter soll 25 Prozent der Summe erhalten. "Dieses perfide System des Betrugs hat selbst mich überrascht. Es ist geradezu grotesk, wie dreist und routiniert die Betrüger hier vorgehen und wie die Ämter mit System ausgetrickst werden. Das sind mafiaähnliche Organisationen", fasst der Enthüllungsreporter die Erkenntnisse zusammen.
Die eingeweihte Mitarbeiterin beim Sozialamt zeigt sich vom dem Betrug im grossen Stil dagegen gar nicht überrascht. Genau so habe man es schon lange vermutet. Doch selbst, wenn es Verdachtsfälle gebe: Wie kann man einen Betrug nachweisen, wenn der "Patient" doch glaubhaft versichert, Pflege zu benötigen? Der gezeigte ambulante Pflegedienst ist dabei sicherlich nicht das einzige Schwarze Schaf.
Doch nicht nur bei den zu Hause gepflegten Menschen gibt es Betrug, sondern auch bei den 750.000, die in Heimen versorgt werden. Auch hier geht es um Geld, vor allem aber um den schönen Lebensabend, um den viele Senioren hier gebracht werden.
"Schlechte Pflege lohnt sich"
Um die Missstände in den Pflegeeinrichtungen festzuhalten, dokumentiert Pia Osterhaus als Praktikantin Diana das Geschehen in zwei Heimen – beide mit Bestnoten des Medizinischen Diensts der Krankenkassen. Trotz der Eins im Pflegezeugnis entwickeln sich die Aufnahmen zu einem Dokument des Grauens: Pflegepersonal ist konstant unterbesetzt und in der Konsequenz überfordert, Heimbewohner werden massiv vernachlässigt – möglicherweise auch misshandelt – zumindest aber kaum individuell betreut. Rückt die Heimleitung zur unangemeldeten Kontrolle an, weiss die Station das dank eines Tippgebers schon lange. So können Hygienemängel kaschiert werden und auch in der Angelegenheit der zwei blauen Augen eines Bewohners wird nicht zu intensiv nachgeforscht.
Der offenkundige Mangel im System ist jedoch nicht so leicht zu verstecken: Geld ist keines da für eine menschenwürdige Pflege, und auch nicht für die Schimmelbekämpfung oder funktionierende medizinischen Geräte, wie im gezeigten Pflegehaus Kreuzberg – und das bei monatlichen Pflegeplatzkosten von bis mehreren tausend Euro. "Schlechte Pflege lohnt sich betriebswirtschaftlich", fasst Sozialwissenschaftler Prof. Stephan Sell zynisch zusammen. Das börsennotierte Unternehmen hinter dem Berliner Heim hat im vergangenen Jahr elf Millionen Euro Gewinn vermeldet. Bei den Pflegekräften kommt nur ein Bruchteil an – 2.000 bis 2.300 Euro brutto verdient eine Vollzeitkraft laut Tarifvertrag. Zeitarbeit ist in der Branche jedoch weit verbreitet und drückt die Preise weiter.
Das System mit der Pflege krankt an allen Stellen:
Nun müssten sich die Pflegekräfte und die Heimbewohner zusammentun, um sich für bessere Bedingungen einzusetzen, ruft der Reporter auf. Und sämtliche verbleibenden Bundesbürger schliessen sich ihnen am besten an. Denn das Risiko, in einen Whopper mit gefährlichen Keimen zu beissen, sei zu vernachlässigen im Vergleich, einmal auf Pflege angewiesen zu sein. Und die ist dann besser gut.
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