Was für eine Schnapsidee! Gemütlich auf meinem Bürostuhl sitzend, denke ich mir: Wie es sich wohl anfühlt, bei "The Voice of Germany" zu singen? Ein paar Tage später stehe ich bereits auf der Bühne - und verfluche meine Idee.
Berlin. Ein Anheizer steht in einem Studio auf der Bühne. Er will das Publikum heissmachen. Mit Erfolg. Rund 800 Menschen klatschen im Takt. Sie skandieren: "Hey, Hey, Hey."
Wenige Meter hinter der Bühne stehe ich und höre den Riesenlärm. Ein paar Sekunden später gehe ich nach vorne. Die Scheinwerfer leuchten und ich beginne zu singen. Ein Gedanke schiesst mir durch den Kopf: "Halleluja, was machst du da?"
Derzeit läuft auf ProSieben und Sat.1 die sechste Staffel von "The Voice of Germany". Die Aufzeichnungen der Casting-Show fanden schon im Juli statt. Die Sender haben unsere Redaktion dazu eingeladen, hinter die Kulissen zu blicken. Ich frage an, ob ein Redakteur auch auf der Bühne singen darf.
Warum macht der das überhaupt?
Die Sender stimmen unserem Plan zu, auch wenn sie anfangs irritiert sind. Bisher habe das noch kein Journalist angefragt. Die Coaches werden aber nicht auf ihren Drehstühlen sitzen.
Egal! Mir geht es ohnehin um das Erlebnis, die Atmosphäre im Studio. Seit rund 15 Jahren singe ich in einer Rockband namens "General Sherman". Allerdings ist das eher auf Hobbyniveau, ein Auftritt vor rund 800 Zuschauern in einem Studio ist für mich Neuland. Wird schon irgendwie klappen, denke ich mir.
Wenige Tage später hasse ich mich für meine Idee. Ich sitze in der Vorhalle des "The Voice"-Studios. Alleine und nervös auf einer schwarzen Couch. Ein Security-Mann steht daneben. Er redet kein Wort. Ein Angestellter am Empfang holt sich etwas zu essen. Er kommt mit einem Teller voller Bratwürste zurück. Vor der Tür qualmt ein Aschenbecher vor sich hin. Es scheint keinen zu stören. Irgendwann geht er von selbst aus.
Die eine Stunde Wartezeit kommt mir ewig vor. Inzwischen male ich mir Horrorszenarien aus, wie ich auf der Bühne versage. Den Text vergesse, die Töne nicht treffe. Die Nervosität steigt von Minute zu Minute.
Kurz vor dem Auftritt hat meine persönliche Panikskala Stufe 9 von 10 erreicht.
Moment mal, singt da eine Frau?
Zu Hause war ich noch zuversichtlich. Die Bühnenerfahrung wird schon helfen, die Nervosität im Zaum zu halten. Auch wenn "The Voice" nicht das Bürgerfest in Regensburg ist. Die Anspannung war dennoch spürbar. Panikskala: 3 von 10.
Die Sender geben mir "Best of You" von den Foo Fighters vor. Das passt, etwas Rockiges. Als ich aber das Playback bekomme, verfliegt die Zuversicht. Leider ist der Song für eine Frau hochtransponiert worden. Sprich: Für eine Männerstimme ist die Tonlage viel zu hoch.
Es ist nicht so, als ob ich es nicht versucht hätte. Zu Hause übe ich den Song und jaule dabei wie ein Hund, dem jemand auf den Schwanz getreten ist. Aber keine Chance. Da komme ich nicht hoch.
Hoffentlich kann ich vor dem Auftritt noch mit der Band reden. Ob sie bitte die Originalversion spielen können. Doch die Sender teilen vor Abflug mit, dass die Band nicht begleitet. Panikskala: 5 von 10.
Ich müsse stattdessen zu dem Playback singen. Panikskala: 8 von 10.
Dann fällt auch noch der Soundcheck wegen Zeitproblemen aus. Panikskala: 9 von 10.
Bei Stufe 10 wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach in Ohnmacht gefallen.
Gejammer wird höflich ignoriert
Nach einer Stunde Wartezeit geht's los. Zwei "The Voice"-Mitarbeiter holen mich ab. Sie scheinen wirklich beeindruckt zu sein, dass ich mich auf die Bühne wage. Dass ich jammere, wie nervös ich sei, ignorieren sie höflich.
Kurz darauf stehe ich hinter der Bühne. Anheizer Christian kommt auf mich zu. Mit seinen blondierten Haaren, dem roten Anzug und schwarzen Hemd erinnert er ein wenig an Hape Kerkeling. Er will meinen Namen für die Ankündigung wissen. Ich sage ihm, dass ich Andi heisse. Dann wünscht er mir viel Glück und geht Richtung Publikum.
Währenddessen fällt die Nervosität langsam von mir ab. Klar, entspannt ist anders. Aber die Warterei war es, die mich so geschlaucht hat. Das Nichtstun.
Jetzt stehe ich endlich hinter der Bühne. Dem Publikum gegenüber. Gleich habe ich es hinter mir.
Andi? Alex? Irgendwas mit A halt
Anheizer Christian verkündet, dass nun ein Reporter komme, der ausserhalb des Wettbewerbs teilnehme. Und dass das Publikum ihn bitte "höflich darüber hinwegtragen" solle. Gelächter. Dann kündigt er an: "Hier ist der … Alex!"
Dass ich eigentlich Andi heisse, ist mir herzlich egal. Ich gehe auf die Bühne und stelle mich auf ein kleines rotes Kreuz. Das Publikum klatscht artig. Die Scheinwerfer leuchten. "Oh Gott, ist das ein Gefühl", entfährt es mir ins Mikrofon. Ein paar Höflichkeitslacher im Publikum.
Ich sehe die 800 Leute vor mir. Klar und deutlich. Oben rechts sitzt tatsächlich einer, der das gleiche T-Shirt trägt wie ich. Weiss mit schwarzen Streifen. Ihm wird es wohl auch gerade aufgefallen sein.
Das ungeliebte Playback startet. "I've got another confession to make. I'm your fool", singe ich mit viel zu tiefer Stimme los. Viele im Publikum jubeln, manche springen sogar von ihren Stühlen auf. Sie scheinen froh zu sein, schon mal für die richtigen Kandidaten üben zu können. Anders kann ich mir das nicht erklären.
Die Zuschauer klatschen mit, ein wenig ausserhalb des Takts. Auch ich lasse mich davon anstecken und singe anfangs zu schnell.
Schön klingt es nicht, was ich ins Mikrofon singe. Auch mein durchgespieltes Horrorszenario tritt ein. Ich vergesse Teile der zweiten Strophe. Doch es macht mir nichts aus. Ich wiederhole einfach Fetzen der ersten Strophe. Fällt doch keinem auf.
Alex hat die Bühne verlassen
Puff! Ein Coachstuhl leuchtet auf und dreht sich um. Anheizer Christian sitzt darauf. Auf dem Stuhl von Yvonne Catterfeld. Er hat den Buzzer gedrückt. Das Publikum johlt, ich muss grinsen. Eine nette Geste.
Dann ist der Song vorbei. Der Playback-Gitarrensound klingt aus. Ich headbange und reisse die Arme in die Luft. Geschafft! Wenn schon nicht gut gesungen: Wenigstens das Posing stimmt. "Dankeschön. Geil!", rufe ich ins Publikum.
Der Anheizer sagt ins Mikro: "Hör mal, für einen Reporter nicht schlecht." Dann verabschiedet er mich – beziehungsweise die Person, für die er mich hält: "Noch einmal einen Riesenapplaus für den Alex."
Ich drehe mich um, winke dem Publikum zu. Hauptsache es ist vorbei. Ich bin erleichtert. Alex hat die Bühne verlassen. Jetzt bin ich wieder Andi.
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