Die achtteilige Netflix-Doku "Das Verschwinden der Madeleine McCann" zeichnet einen der wohl spektakulärsten und bekanntesten Vermisstenfälle unserer Zeit nach. Die True-Crime-Doku bietet zwar keinen neuen, doch dafür einen umso umfassenderen Blick auf den Fall. Doch ist diese Aufmachung das richtige Format, um über ein vermisstes Kind zu berichten?

null
Ort: null (null)
Datum: null
Eine Kritik

Mehr TV- & Streaming-News finden Sie hier

Mehr News über TV-Shows

Am 3. Mai 2007 verschwand die damals dreijährige Madeleine McCann aus einer Ferienanlage im portugiesischen Praia da Luz. Die Eltern Kate und Gerald waren an dem Abend mit Freunden essen.

Das Apartment, in dem Maddie und ihre kleinen Brüder schliefen, lag in Sichtweite und die Eltern schauten nach eigenen Angaben abwechselnd und regelmässig nach den Kindern. Und doch passierte, was wohl der Albtraum aller Eltern ist: Bei einer Kontrolle gegen 22:00 Uhr fand Kate McCann das Bett ihrer Tochter leer vor.

Das ist die Ausgangssituation für den wohl bekanntesten Vermisstenfall unserer Zeit, der ein bisher nie dagewesenes Medienecho auslöste: Star-Autorin J.K. Rowling sammelte Geld und half Kate McCann beim Verfassen eines Buches, David Beckham appellierte an die Öffentlichkeit, Hinweise zu geben – sogar der Papst segnete die Eltern und ein Fotos des Mädchens.

Maddie-McCann-Doku: True-Crime-Serien boomen

Einen vorläufigen weiteren Höhepunkt erreicht die mediale Aufmerksamkeit nun mit der achtteiligen Netflix-Doku "Das Verschwinden der Madeleine McCann". Mit einer Mischung aus originalen Filmaufnahmen, nachgestellten Szenen und Interviews mit Zeitzeugen reiht sich die Serie in den boomenden Markt der True-Crime-Dokus ein.

Die Lust des Zuschauers an schaurigen Kriminalfällen ist nichts Neues - die treue Fangemeinde von "Aktenzeichen XY … ungelöst" kann das bestätigen. Doch während bei dem ZDF-Klassiker die Täter-Suche im Vordergrund steht - unterstützt von eher laienhaft nachgespielten Szenen - werden bei modernen True-Crime-Serien berühmte Fälle, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, in Spielfilmqualität umgesetzt. Ob von zahlreiche Dokus über "Jack The Ripper" bis zum oscarprämierten "O.J. Simpson: Made in America" - die Unterhaltung steht im Vordergrund.

Die Idee, den Vermissten-Fall der kleinen Maddie nun auch als mehrteilige TV-Sendung aufzuarbeiten, kommt ob des immer noch bestehenden grossen internationalen Interesses nicht überraschend. Erst recht, wo sich das Datum des Verschwindens am 3. Mai zum zwölften Mal jähren wird.

Kate und Gerry McCann boykottieren die Serie

Und man hat wohl noch nie einen so geballten Überblick über alle Theorien, alle Hinweise und alle Beteiligten bekommen. Doch zielführend im Sinne einer möglichen Lösung des Falles ist diese Darstellung natürlich nicht.

Zwar wird gleich zu Beginn eine Telefonnummer eingeblendet, unter der Hinweise abgegeben werden können. Doch schnell ist klar, dass es sich hier um reines Entertainment handelt - inklusive einer Abhandlung über die Entstehung des Tourismus an der Algarve. Acht Stunden Sendezeit wollen schliesslich gefüllt werden.

Ähnlich sehen das wohl auch Madeleines Eltern Kate und Gerry McCann. Sie lehnten schon im Vorfeld eine Mitarbeit an der Doku ab. Auf ihrer Website findmadeleine.com verkünden sie, sie sähen nicht, dass die Sendung bei der Suche nach Madeleine helfen könne - stattdessen sehen sie sogar die Gefahr, dass die noch laufenden Untersuchungen der Polizei behindert werden.

Diese Verweigerung ist absolut nachvollziehbar - doch gleichzeitig wird so eine der am weitesten verbreiteten Theorien um das Verschwinden der kleinen Maddie befeuert: Fast von Beginn an standen die Eltern unter Verdacht. Und wenn man sich noch einmal die Aufnahmen anschaut, wie sie allzu ruhig und abgeklärt vor die Kameras treten, fällt es allzu leicht, diesen beiden Menschen das Schlimmste zuzutrauen.

Sensationslust oder echte Aufarbeitung?

Doch verdächtig wirkt eigentlich jeder: Der Nachbar, der bei seiner Mutter wohnt. Der Russe, der Websites programmiert und auf dessen Festplatten Pornos gefunden wurden ... Es ist erschreckend zu merken, wie bereitwillig man sich als Zuschauer in dem Strudel der an Hexenjagden erinnernden Suche nach Verdächtigen ziehen lässt. Jede noch so schräge Theorie wirkt irgendwann überzeugend, wenn sie im TV schickt präsentiert wird.

So ist die Doku an den Stellen sehenswert und auch lehrreich, wenn sie sich nicht Voyeurismus und Sensationslust befriedigt, sondern das grosse Bild dahinter beleuchtet: Warum wurde gerade dem Fall dieses einen kleinen Mädchens so viel Aufmerksamkeit zu teil, wo doch die Zahl vermisster Kinder allen in Europa in die Zehntausende geht?

Eine Erklärung liefert Ernie Allen, damals Präsident und CEO des Internationalen Zentrums für vermisste und missbrauchte Kinder. Es sei die absolute Alltäglichkeit der Situation, die dazu geführt hätte, dass sich sehr viele Eltern mit den McCanns hätten identifizieren können. "Was ihnen passiert sei, kann auch uns zustossen" scheint eine plausible Erklärung.

Maddie McCanns Schicksal als klickstarker Fortsetzungsroman

Doch sind es wohl eher die ebenfalls zu Wort kommenden PR-Strategen und Pressevertreter, die aus dem Fall das machten, was er heute - leider - ist: eine zuverlässig Klicks und Aufmerksamkeit generierende Fortsetzungsgeschichte in den Boulevardmedien.

Denn spätestens, wenn eine portugiesische Mutter unter Tränen vom Verschwinden ihres elfjährigen Sohnes erzählt und anklagend fragt, warum bei der Suche nach ihm weder Ressourcen noch Interesse in einem vergleichbaren Masse vorhanden waren. Was soll man dieser Frau darauf antworten? Dass manche Kinder wichtiger sind, als andere?

Das kann und darf niemals die Antwort sein - doch die Netflix-Doku ist leider ein weiterer Schritt dazu, dass es so scheint.

Die achteilige Doku-Serie "Das Verschwinden von Madeleine McCann" ist über den Streaming-Dienst Netflix on demand abrufbar.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.