Kindesentführung – wohl eines der schlimmsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann. Doch wie weit darf man bei der Rettung des Kindes gehen? Steffen Hallaschka will sich hierzu in seiner RTL-Show "stern TV: Das Live-Experiment" ein Stimmungsbild der Zuschauer verschaffen. Ein interessantes Experiment – mit einigen Mängeln.
Wir müssen Entscheidungen treffen. Jeden Tag. Die meisten Entscheidungen sind banal. Brötchen oder Müsli, Hemd oder T-Shirt, Bus oder Fahrrad? Andere Entscheidungen sind da schon weitreichender: Miete oder Eigentum, kündigen oder weiterarbeiten oder heiraten oder nicht? Und dann gibt es Entscheidungen, vor die möchte man niemals gestellt, weil man sich nur zwischen Pest und Cholera entscheiden kann.
Und um genau so eine Entscheidung geht es am Mittwochabend bei "stern TV: Das Live-Experiment – Wie entscheiden Sie?" Worum geht es? "Eine Sendung, die wir nicht nur für Sie machen, sondern mit Ihnen", erklärt Moderator Seffen
Wer hier schuldig oder nicht schuldig sein soll, das ist der fiktive Polizeikommissar Fabian Feller, der in einem ebenso fiktiven Fall ermittelt. In diesem wird ein Kind entführt. Feller und seine Kollegen machen einen Tatverdächtigen aus und können ihn festnehmen. Beim Verhör drängt die Zeit, denn das Kind braucht dringend Insulin, sonst droht der Tod. Damit der Verdächtige den Aufenthaltsort des Kindes verrät, droht ihm Feller erst Gewalt an, dann übt er sie tatsächlich aus. Der Verdächtige bricht plötzlich zusammen, fällt dann ins Koma. Zuvor kann er aber noch den Aufenthaltsort mitteilen, so dass das Kind rechtzeitig gerettet wird.
Drohungen und Gewalt bei einer Vernehmung?
Die Zuschauer im Studio und zuhause erleben den Fall als Film, der zwischen dem Gerichtsprozess und den Ermittlungen des Kommissars hin- und her springt. Am Ende halten Staatsanwaltschaft und Verteidigung Plädoyers, danach sollen die Zuschauer abstimmen, ob der Kommissar schuldig oder eben unschuldig ist. Die Zeit zwischen den verschiedenen Filmabschnitten nutzt Hallaschka zur Meinungsbildung, indem er Experten und Betroffene zum Thema befragt und deren Meinung einholt.
Zum Beispiel Elisa Hoven. Die Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig steckt erst einmal die Rahmenbedingungen ab und erklärt auf Hallaschkas Frage, dass Kommissar Feller, aber auch echte Polizisten, in einem solchen Fall weder Gewalt anwenden noch mit Gewalt drohen dürfen – selbst wenn es um das Leben eines Kindes geht. "Unsere Strafprozessordnung sieht vor, dass bestimmte Methoden bei der Vernehmung nicht erlaubt sind. Dazu gehört zum Beispiel die Misshandlung einer Person. (…) Man darf auch nicht damit drohen", erklärt Hoven.
Hallaschka hakt nach, fragt nach der "Waffengleichheit", schliesslich gefährde der Täter das Leben eines Kindes, und wo denn überhaupt eine Drohung beginne. Hoven erklärt die Grenzen und auch, warum die Regelungen dem Schutz der Bürger dienen: "Wir alle könnten in die Situation kommen, einmal beschuldigt zu werden, möglicherweise auch zu Unrecht."
Uwe Risse: "Menschenwürde ist nicht einseitig"
Es ist gut, dass eine Expertin wie Elisa Hoven zu Gast ist, denn die Sendung ist immer dann am stärksten, wenn Hallaschka sich die Expertise seiner Gäste einholt. Auch die von Dirk Peglow. Der Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter ordnet die Lage einer Vernehmung aus Sicht der Polizeibeamten ein und erklärt: "Wir müssen mit diesen Leuten professionell umgehen." Rechtsanwalt Lutz Simon schildert wiederum seine Erfahrung, als er seinerzeit den Ermittler im Entführungsfall Jakob von Metzler vertrat, der sich wegen der Bedrohung des Entführers Magnus Gäfgen vor Gericht verantworten musste.
Emotional bis beklemmend wird es, als Hallaschka keine Expertinnen und Experten interviewt, sondern zwei Betroffene. Zum einen Natalie Schöffmann, die während eines Fahrradtrainings entführt, gefoltert, kurze Zeit später aber wieder freigelassen wurde. Uwe Risses Tochter Anneli-Marie wurde ebenfalls entführt, allerdings von den Tätern getötet. Trotzdem will Risse die Frage, ob der fiktive Ermittler Drohungen und Gewalt anwenden dürfen sollte, differenziert betrachten.
Man könne aus der Verpflichtung zur Hilfe, das Kind zu retten, also "menschlich zu handeln", keinen Befehl für die Polizeibeamten machen, der hier auch Drohungen oder Gewalt vorsieht. Dennoch solle der jeweilige Ermittler handeln und "das tun, was ihm sein Herz sagt". Man solle sich auch in die Situation des Opfers versetzen, denn "Menschenwürde ist nicht einseitig", so Risse.
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Warum das "stern TV: Das Live-Experiment" schiefgeht
Viele Stimmen von Experten und Betroffenen – eigentlich eine gute Ausgangslage für ein "Live-Experiment", die Steffen Hallaska und sein "stern TV"-Team da geschaffen haben. Eigentlich. Denn der Teufel steckt wie immer im Detail, manchmal aber ist er auch sofort zu erkennen. "Sie entscheiden heute Abend über das Schicksal eines Kriminalbeamten, eines Polizeikommissars, der sich vor Gericht verantworten muss, weil er das Leben eines entführten Kindes retten wollte", erklärt Hallaschka zu Beginn und genau in diesem Satz liegt schon der erste Fehler, den der Moderator so oder so ähnlich noch oft an diesem Abend machen sollte.
Denn ganz offensichtlich will Hallaschka mit seinem "Live-Experiment" herausfinden, was die Zuschauer zum Dilemma Gewaltanwendung, um ein Kind zu retten, denken. Und damit so ein Experiment auch irgendeine Form von Aussagekraft haben kann, gehört es dazu, dass die Teilnehmer möglichst gut informiert, vor allem aber nicht einseitig beeinflusst werden. Aber genau das passiert an diesem Abend mehrfach und Hallaschka hat daran nicht unerheblichen Anteil.
Zum Beispiel mit seiner Eingangsaussage. Nicht nur, dass Hallaschka sie mit einem Tonfall der Fassungslosigkeit formuliert, sie ist auch noch schlichtweg falsch. Denn der fiktive Polizeibeamte muss sich nicht vor Gericht verantworten, weil er das Leben eines Kindes retten wollte – das wäre in der Tat absurd. Er muss sich verantworten, weil er jemanden bedroht und geschlagen hat. Ein wichtiger Unterschied, den Hallaschkas Aussage nicht macht. Er "entschied sich für die Moral und gegen das Gesetz", erklärt Hallaschka an anderer Stelle, liegt aber auch hier falsch. Denn was sind Gesetze, wenn nicht in allgemeingültige Form gegossene Moralvorstellungen?
"stern TV: Das Live-Experiment": Meinungsbildung, aber auch Meinungsbeeinflussung
Hallaschka drängt mit seiner Aussage bereits in eine Richtung und das macht er auch mit der Auswahl seiner Gäste. Die, die da sind, helfen zwar in der Tat, sich ein Bild zu machen. Das Problem sind aber die Gäste, die nicht da sind. Denn wenn man sich ein umfassendes Bild machen möchte – und das suggeriert die Sendung – dann hätte Hallaschka zum Beispiel noch einen zu Unrecht Beschuldigten oder ein Opfer von Polizeigewalt zu Wort kommen lassen müssen.
Interessanterweise macht Hallaschka das auch, als er den Fall der Entführung von Peggy zeigt, bei dem seinerzeit ein Beschuldigter zu Unrecht im Gefängnis sass, nachdem er von den Ermittlern zu einem Geständnis gedrängt wurde. Nur macht Hallaschka das eben erst nach der Abstimmung der Zuschauer.
Es sind solche groben Fehler bei einer objektiven Meinungsbildung, die den eigentlich spannenden Experiment-Charakter der Show kaputt machen, aber auch kleinere. Etwa, wenn Dirk Peglow aus der Praxis erklärt, dass ein Polizeibeamter den Verdächtigen bei der Vernehmung erst belehren muss, dass dieser nichts aussagen muss, was ihn belastet. Da antwortet Hallaschka nur: "Es wird immer komplizierter, aber ich muss an dieser Stelle ein bisschen drängeln" und gibt dann ab zu den Nachrichten.
Dabei hätte Hallaschka diese Parteinahme gar nicht gebraucht, denn seine Gäste und auch die Schauspieler im Film liefern genügend Argumente für die eine und für die andere Sichtweise. Und so hat am Ende das Ergebnis, bei dem die überwiegende Mehrheit (87 Prozent) der Zuschauer das Urteil "nicht schuldig" fällt, ein Geschmäckle. Denn wenn Hallaschka schon ein Experiment machen will, dann zum einen richtig und zum anderen im Vertrauen, dass seine Zuschauer schon in der Lage sind, sich selbst eine Meinung zu bilden. "Ich glaube, das ist ein Experiment, das wir durchaus wiederholen sollten", erklärt Hallaschka am Ende. Wenn man es dann besser macht, gerne.
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