Sie sind der Meinung, niemand dürfe Ihnen Ihre Meinung verbieten? Sie finden, diese Zensurkultur hat erschreckende Ausmasse angenommen? Cancel Culture ist eine Bedrohung der Demokratie? Auch wenn es Sie überrascht: Da ist Jan Böhmermann in der neusten Ausgabe seines "ZDF Magazin Royale" ganz bei Ihnen. Die Frage ist nur, wer hier wen cancelt.
Fangen wir diesmal hinten an. Hinten, das sind in diesem Fall die letzten fünf Minuten der jüngsten Ausgabe des "ZDF Magazin Royale" und da hat Moderator
Denn warum
Was ist eigentlich Cancel Culture?
Böhmermann will dabei gleich ein bisschen Struktur in die Sache bringen und sortiert erst einmal die wichtigsten Fragen: "Was ist Cancel Culture? Wie funktioniert Cancel Culture? Wer muss unter Cancel Culture leiden? Und: Wer cancelt überhaupt wen?" Das macht er völlig ironiefrei und das sind tatsächlich die wichtigsten Fragen wenn es um Cancel Culture geht. Und so sammelt Böhmermann erst einmal Zitate, um dem Begriff "Cancel Culture" eine Kontur zu geben.
Zum Beispiel von Julian Nida-Rümelin: "Debatten müssen dazu dienen, herauszufinden, was wirklich der Fall ist – unabhängig davon, wer welche Interessen hat und welchen persönlichen Hintergrund. In der Cancel Culture gilt das nicht mehr. Sie bedroht unsere Demokratie."
Bedrohung der Demokratie hält Böhmermann dementsprechend als Notiz fest und bei der Frage, wie genau diese Bedrohung denn aussehe, landet er bei einem Zitat von
"Haben nicht noch mehr Männer, deren Stimmen man zu selten in der Öffentlichkeit hört, ein paar kluge Ergänzungen?", fragt Böhmermann spitz und mit dem Ziel, darauf aufmerksam zu machen, von wem "Zensurkultur-Vorwürfe" in der Regel kommen. Und dementsprechend stehen noch mehr von genau diesen Männer auf Böhmermanns Zitate-Liste: Boris Palmer, Dieter Nuhr oder Jan Fleischhauer. Am Ende dieser Zitate hält Böhmermann folgende Definition von Cancel Culture fest: "Eine, das Berufsleben bedrohende Zensur der Meinungsfreiheit und eine Gefährdung der Demokratie durch Mächtige – mit dem Ziel, andere hörig zu machen."
"ZDF Magazin Royale": Wer cancelt hier wen?
Da dürfte in konservativen und rechten Kreisen ein heftiges Kopfnicken einsetzen, doch eine Definition ist eben keine Interpretation und so kommt es auch bei Cancel Culture auf die Frage an, wer denn hier wen cancelt und vor allem warum. Und um diese Fragen zu beantworten, hat Böhmermann ein paar Beispiele gesammelt. Etwa den Fall von Hannes Kuhn, Gründer der Solar Millennium AG. Der habe einst 78 Millionen Euro von der "Süddeutscher Zeitung" gefordert. "Das würde für die 'Süddeutsche Zeitung' bedeuten: Totale Vernichtung. Typisch Cancel Culture", kommentiert Böhmermann.
Aber warum macht Kuhn das? Böhmermann erklärt die Hintergründe: "Die Klage bezog sich auf einen Bericht der 'SZ'-Journalisten Markus Balser und Uwe Ritzer über ein auffälliges Aktiengeschäft. Es spielte sich rund um den Niedergang der Firma Solar Millennium ab. Die 'SZ' hatte Hinweise erhalten, die den Verdacht auf Insiderhandel nahelegten. Kuhn bestritt, dass es sich um ein Insidergeschäft gehandelt habe", zitiert Böhmerann sueddeutsche.de aus dem Jahr 2018 und findet: "Das klingt doch erstmal nach ganz normalem, nicht verbotenem Journalismus."
Und genau das ist das Problem. Denn wenn Böhmermann genauer hinsieht, wer hier wen cancelt und warum, dann erscheinen da nicht plötzlich die Klischees von linken Studentenvereinigungen, die gegen einen Auftritt konservativer oder rechter Politiker an ihren Universitäten protestieren. Nein, dann sind das bei Böhmermann Fälle, in denen etwa Riesenkonzerne Journalisten, Studentenzeitungen, Umweltschützer und andere Aktivisten verklagen, um unliebsame Berichterstattung zu verhindern oder um einzuschüchtern. Oft aussichtslose Klagen, die aber existenzbedrohend für die Beklagten sind.
"Mit Zivilklagen die Zivilgesellschaft fertig machen"
Eine Tendenz, die eine gemeinsame Studie der Open Knowledge Foundation Deutschland und des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft von 2023 bestätigt und die Böhmermann zitiert: "Die Ergebnisse zeigen, dass juristische Interventionen, das heisst der Einsatz von juristischen Mitteln bzw. deren Androhung, seit spätestens 2015 deutlich zugenommen haben. […] Deutlich wird, dass es sich dabei teilweise um eine gezielte Strategie der extremen Rechten handelt […]." "Mit Zivilklagen die Zivilgesellschaft fertig machen", fasst Böhmermann zusammen.
Natürlich, darauf macht Böhmermann auch aufmerksam, habe jeder das Recht, sich gegen unseriöse Berichterstattung zur Wehr zu setzen, aber das ist etwas anderes, als die Justiz zu missbrauchen, um unliebsame Berichterstattung von Journalisten zu verhindern oder Aktivisten einzuschüchtern. Und genau an dieser Stelle ist die Einladung von Günter Wallraff Segen und Fluch zugleich. Segen, weil der erfahrene Journalist hierzu eine Menge erzählen könnte. Fluch, weil es nur dazu reicht, seine Erfahrungen anzuteasern, ehe Böhmermann darauf verweist, dass man das komplette Gespräch online ansehen könne. Die Kernaussage der Folge geht dadurch ein bisschen verloren, dabei ist sie gerade jetzt so wichtig.
Denn Böhmermann ruft implizit dazu auf, ganz genau hinzusehen, wer denn hier immer von Cancel Culture spricht und warum. Denn das Interessante ist, dass mit "Zensurkultur" immer die vermeintliche Zensur des politischen Gegners gemeint ist. Wenn etwa in konservativen Kreisen geschlechtergerechte Sprache als Woke-Wahnsinn und Gender-Gaga diffamiert wird, dann hört man den Vorwurf der Zensurkultur von Friedrich Merz jedenfalls nie. Zensurkultur ist für Friedrich Merz also in aller erster Linie die Zensurkultur derer, die politisch links von der Union stehen.
Wer bedroht die Meinungsfreiheit wirklich?
Und wenn bei Cancel Culture tatsächlich von der "grössten Bedrohung für die Meinungsfreiheit" fabuliert wird, dann sollte man mal nachfragen, ob die Klischees hier stimmen. Ob etwa die Studentengruppe, die gegen den Auftritt rechter Politiker an ihrer Uni protestiert, wirklich eine grössere Bedrohung der Meinungsfreiheit ist, als rechte Parteien, die mit "Lügen-Presse"- und "Mainstream-Medien"-Diffamierungen versuchen, die Glaubwürdigkeit von Medien zu untergraben, um leichteres Spiel mit ihrer rechten Agenda zu haben.
Daher darf und sollte man die jüngste Ausgabe des "ZDF Magazin Royale", egal aus welchem politischen Lager man kommt, einmal als Anlass nehmen, um zu überlegen, ob man das nächste Mal mit einstimmt, wenn jemand den Vorwurf der Cancel Culture erhebt und zu fragen, ob da nicht eine bestimmte Strategie dahinter steckt. Denn wer lässt sich schon gerne von jemandem für die eigenen Zwecke missbrauchen?
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