Die italienische Exklave Campione d’Italia am Luganersee im Tessin steht nach dem Konkurs und der Schliessung des Spielcasinos am Abgrund. Fast 500 Spielbank- und 100 Gemeindeangestellte stehen auf der Strasse – verbittert und ratlos.
Der Schock sitzt tief. Die Stimme von Rosy Bianchi zittert, wenn sie über den 27. Juli spricht. An diesem Freitag tauchten die Gerichtsvollzieher im Casino von Campione d'Italia auf. Die Beamten des Konkursamtes von Como schickten die Angestellten sowie die ersten Kunden des Tages nach draussen. Es war 13.30 Uhr. Kurz darauf waren alle Eingänge versiegelt. Das spielerische "Rien ne va plus" war bitterer Ernst geworden. Eine der grössten Spielbanken Europas: Geschlossen wegen Konkurs.
Mehr als drei Wochen sind mittlerweile vergangen. Auf dem Parkplatz vor dem gigantischen Spielbankgebäude haben die Anstellten eine Mini-Zeltstadt aufgebaut. Hier werden Kaffee und Kuchen angeboten, am Mittag wird gemeinsam gekocht. "SOS Campione is dead" heisst es auf einem der zahlreichen Spruchbänder. Oder: "Ridateci il casinò" (Gebt uns die Spielbank zurück).
(Ehemalige) Mitarbeiter der Spielbank sind hier, Gemeindeanstellte oder auch nur einfache Bürger. Viele tragen weisse T-Shirts mit dem Hashtag "#salviamoCampione" (Retten wir Campione). Auch in der brütenden Augusthitze sitzen sie auf den Bänken unter den Plastikplanen, um Passanten zu informieren und sich gegenseitig Mut zu machen.
Ein Drama für das Dorf
"Es ist ein unglaubliches Drama für uns, unsere Familien und das ganze Dorf", sagt Bianchi, Präsidentin des gewerkschaftlichen Betriebsrats. Seit etlichen Jahren arbeitete sie als Croupier im Casinò Municipale, einer Spielbank mit langer Geschichte (siehe Kasten). Nur einmal, 1983, war diese wegen einer Mafia-Affäre schon mal kurzzeitig geschlossen.
Doch nun ist vollkommen unklar, wie es weitergeht. 486 Angestellte der Spielbank wurden vor die Tür gesetzt. Viele weitere Menschen sind betroffen, etwa Putz- oder Unterhaltsequipen. Die Hoffnung, dass die Spielbank nach einigen Tagen wiedereröffnen würde, hat sich zerschlagen. Ein gewaltiger Schuldenberg von 132 Millionen Euro (ca. 155 Millionen Franken) lastet auf der Institution.
Bei einer Bürgerversammlung im Januar hatte Gemeindepräsident Roberto Salmoiraghi (68) zwar "Blut und Tränen" angekündigt, um Campione zu retten. Doch niemand hat mit einem solchen Ende gerechnet.
Protest brachte nichts
Leonardo Pace arbeitet seit 20 Jahren in der Spielbank, davon 16 als Croupier. Wie rund zwei Drittel seiner Kollegen wohnt er im Schweizer Kanton Tessin, hat dort ein Haus gekauft, weil es billiger war als in Campione. Er macht sich grosse Sorgen, die Hypothek nicht mehr bezahlen zu können. "Wir fühlen wir uns einfach von allen im Stich gelassen", sagt er.
Vor der Präfektur in Como und dem Sitz der Region Lombardei in Mailand hat man schon protestiert. "Alle sind nett und freundlich, aber niemand interessiert sich wirklich für unser Schicksal", moniert er. Jetzt setzt man Hoffnungen auf die Zentralregierung in Rom, die einen Verwalter entsenden könnte.
Doch in Rom sind im August alle in den Ferien. Wegen der Tragödie von Genua – dem Brückeneinsturz mit Dutzenden von Toten – hat man ein geplantes Schreiben an Staatspräsident Sergio Mattarella aufgeschoben.
Das Schicksal der Spielbank und jenes der Gemeinde sind unmittelbar verwoben. Das Casino gehört der Gemeinde, und ohne Casino hat die Gemeinde keine Einkünfte. Die wenigen Steuereinnahmen von natürlichen Personen der 2000-Seelen-Gemeinde, in der viele Pensionäre leben, reichen nicht, um den aufgeblähten Beamtenapparat des Dorfs am Leben zu halten.
Auch die Gemeinde ist pleite. Schon seit Februar erhalten die Gemeindeanstellten keine Löhne mehr. Und Anfang Woche hat die Gemeinde den Rotstift radikal angesetzt: 86 von 102 Gemeindeanstellten wurden in den so genannten "Mobilitätsstatus" versetzt, der bei Massenentlassungen geltend gemacht werden kann.
Bei der Gemeindepolizei bleiben so nur noch zwei von 22 Beamten übrig. Der Kindergarten, den 50 Kinder besuchen, wird nach den Sommerferien nicht mehr geöffnet. Neun Angestellte sind betroffen. Geschlossen wird auch das Tourismusbüro. Dienstleistungen wie die Versorgung von Senioren sind akut gefährdet.
Mangel an Information
"Die Lage ist dramatisch", sagt eine der entlassenen Gemeindeanstellten. Sie wisse nicht mehr, wie sie die Rechnungen bezahlen könne. Und eine Deutsche, die seit vielen Jahren in Campione d’Italia wohnt, klagt: "Wir erhalten keinerlei offizielle Informationen – unglaublich." Sie erzählt zudem, dass ihre Schweizer Versicherung (Hausrat, etc.) ihr alle Versicherungsleistungen gekündigt hätte.
Den Zeitungen konnten die Bürger entnehmen, dass es nun einen Rekurs gegen den Entscheid des Konkursamts gibt, bezahlt von (nicht näher definierten) Privaten, weil die Gemeinde kein Geld hat. Vielleicht kann so erreicht werden, dass die Schliessung des Casinò Municipale aufgehoben wird.
"Für die Italiener sind wir Schweizer, für die Schweizer Italiener", sagt Rosy Bianchi. Niemand fühle sich zuständig. Ein Dorf zwischen Stuhl und Bank – aber mit Sicherheit am Abgrund. Lange galten die Campionesi als reich und privilegiert. Nun hat sich das Blatt in kürzester Zeit gewendet.
Empört über St. Moritz
"Sicher ist: Ohne die Spielbank läuft hier gar nichts", sagt der Gerant der "Bar Campione" am Seeufer. "Die Immobilienpreise sind bereits gefallen", sagt ein Kunde an der Bar. Manche fordern nun einen Anschluss Campiones an die Schweiz. Aufgetaucht ist auch der Vorschlag einer Schweizer Klinikgruppe, das gewaltige Spielbankgebäude in ein Spital und in Privatwohnungen zu konvertieren.
Von solchen Perspektiven halten die Spielbankangestellten nichts. Sie wollen zurück an die Spieltische, denken gar über eine Kooperative nach, um den Betrieb in Eigenregie laufen zu lassen. Auf dem Hauptplatz steht ein grosses Schild, auf dem die täglichen Einnahmeausfälle der Spielbank verzeichnet werden – eine Spielbank nota bene, die 2017 noch einen Bruttospielertrag von fast 92 Millionen Euro erwirtschafte.
Derweil ärgern sie sich über anderen Spielbanken, die aus ihrer Situation Profit zu schlagen versuchen. Das Casino von St. Moritz wirbt in einem Video etwa einleitend mit dem Konkurs von Campione, um Spieler ins kühle Engadin zu locken. Bei den Campionesi kommt das gar nicht gut an: "Mit den Schicksalsschlägen von anderen sollte man nicht spielen." © swissinfo.ch
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