Die EU hat inzwischen elf Sanktionspakete gegen Russland verhängt, doch die Massnahmen sind löchrig. Berichten zufolge soll noch immer russisches Öl und Gas nach Europa kommen – und auch hierzulande verheizt werden. Wie kann das sein? Der Politikwissenschaftler Christian von Soest erklärt, wo die Sanktionen verschärft werden könnten – und warum Russlands Wirtschaft weiterwächst, während Deutschland in eine Rezession rutscht.
Die deutsche Wirtschaft kommt nicht voran: Während sie im Winterhalbjahr zwei Quartale in Folge schrumpfte, stabilisierte sich die Lage im Frühjahr zwar – Experten gehen dennoch davon aus, dass Europas grösste Volkswirtschaft im Gesamtjahr 2023 leicht schrumpfen wird (-0,4 Prozent) und in eine Rezession schlittert.
Die Frage, ob Deutschland der "kranke Mann Europas" ist, wurde längst gestellt. Der EU prognostizieren Experten immerhin ein schwaches Wachstum von 0,8 Prozent. Deutschland wird angesichts der energieintensiven Industrie und der jahrelangen Abhängigkeit von Moskau besonders hart vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und dessen Folgen getroffen.
Einfacher Vergleich greift zu kurz
Dort hat die Wirtschaft trotz Sanktionen und einem schwachen Rubel zuletzt zugelegt – und zwar stärker als erwartet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs zuletzt um 4,9 Prozent, erwartet worden war ein Wachstum von 3,9 Prozent. Insgesamt gehen Experten von einem Wachstum der russischen Wirtschaft von 2 Prozent aus.
Sanktionsexperte Christian von Soest warnt jedoch vor voreiligen Schlüssen und unzulässigen Vergleichen. "Wenn man den direkten Vergleich zwischen russischem Wirtschaftswachstum und deutscher Rezession anschaut, muss man fragen: Was bedeutet das Wirtschaftswachstum in Russland?"
Russland: Umgestellt auf Kriegswirtschaft
Die russische Wirtschaft sei im vergangenen Jahr um etwa zwei Prozent zurückgegangen – das jetzige Wachstum erfolge also von einer geschwächten Ausgangslage. "Das derzeitige Wirtschaftswachstum wird ausserdem vor allem von der Kriegswirtschaft getrieben", betont er. In Russland werde alles dem Krieg untergeordnet – "das kommt nicht den Menschen im Land zugute".
Moskau hat die Ausgaben für den Krieg gegen die Ukraine weiter erhöht, was die Industrie fördert. Gleichzeitig wird der private Konsum durch gestiegene Sozialleistungen und höhere Löhne angekurbelt. Das hat zwar die Sanktionen abgeschwächt, Beobachter sehen die russische Wirtschaft aber durch einen Arbeitskräftemangel bedroht, sollte Putin noch mehr Soldaten einziehen.
Blick vom direkten Vergleich lösen
Von Soest sagt: "Wir müssen uns vor diesen Hintergründen vom direkten Vergleich und dem alleinigen Blick auf das Wirtschaftswachstum lösen." Zwar seien Experten tatsächlich davon ausgegangen, dass die westlichen Sanktionen Russland stärker beeinträchtigen würden, aber: "Sie treffen die russische Wirtschaft empfindlich."
Lohnenswerter ist es aus Sicht des Sanktionsexperten einen Blick auf die Löcher in den Sanktionen zu werfen. Denn Berichte legen nahe, dass Europa und Deutschland auf Umwegen immer noch Öl und Gas aus Russland beziehen – über Dreiecksgeschäfte.
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Westliche Sanktionen sind löchrig
"Russisches Rohöl kommt zum Beispiel nach Indien, wird dort raffiniert und weiter nach Europa verschifft. Gerade in Indien beobachten wir massive Steigerungsraten und es gibt Raffinerien, die im russischen Besitz sind", erklärt von Soest.
Das sei nicht illegal, aber man müsse sich fragen, ob ein solches Geschäft nicht den Geist der Sanktionen verletzen würde. "Wenn man solche Wege des Öls nicht nachvollzieht und weiter russisches Öl in grossem Stil bezieht, sind die westlichen Sanktionen unglaubwürdig", urteilt von Soest.
Insgesamt sei der Preisdeckel für russisches Öl, der eine Grenze von 60 US-Dollar pro Barrel festlegt, ein innovatives und gutes Instrument. "Es ging schliesslich darum, dem Weltmarkt eben nicht das russische Rohöl und weiterverarbeitete Öle zu entziehen, sondern nur den Profit zu deckeln, den Moskau daraus schöpft", erinnert er. Es sei aber ein zentrales Problem, dass der Preisdeckel anscheinend kaum überprüft wird.
Kontrollen brauchen mehr Biss
"Wenn europäische Händler russisches Öl oder weiterverarbeitete Produkte kaufen, es von westlichen Reedereien transportiert und versichert wird, sind die Kontrollen offenbar sehr lax oder gar nicht vorhanden", sagt von Soest.
Es gebe sehr glaubhafte Berichte und Indizien, dass der Preisdeckel verletzt und teureres russisches Öl transportiert wird. "Was die Reedereien und die Versicherungen vorhalten müssen, ist lediglich eine Bestätigung, dass der Preisdeckel eingehalten wird – es müssen aber keine Dokumente wie etwa ein Kaufvertrag eingereicht werden", erklärt er. Hier könnten die Kontrollen aus seiner Sicht sehr viel mehr Biss haben.
Europa Hauptabnehmer von russischem LNG?
Gleichzeitig fliesst zwar durch Pipelines aus Russland kein Gas mehr auf direktem Wege nach Deutschland, aber: Es gibt Hinweise, dass Europa mittlerweile der grösste Kunde von russischem Flüssiggas (LNG) ist.
"Im April 2022, kurz nach Beginn der vollständigen Invasion Russlands in die Ukraine, wurde der Export von Schlüsselkomponenten für die LNG-Förderung oder Verarbeitung durch die EU und andere Staaten verboten. Gleichzeitig wird aber jetzt offensichtlich zunehmend LNG-Gas aus Russland bezogen – wenn auch nicht direkt", zeigt von Soest das Ungleichgewicht auf. Belgien sei mittlerweile der drittgrösste Exporteur von Gas nach Deutschland geworden – ohne, dass das Land eine eigene Gasförderung habe.
Experte: "Es besteht immer noch eine grosse Abhängigkeit"
"Das schafft ein Glaubwürdigkeitsproblem", ist sich von Soest sicher. Über die Gründe könne man nur spekulieren. Eine mögliche Erklärung sei, dass die Sanktionen aus Angst vor höheren Preisen bei Versorgungsengpässen nicht konsequent oder vollständig durchgesetzt würden.
"Es besteht immer noch eine grosse Abhängigkeit", analysiert er. Vor dem Krieg habe Deutschland mehr als die Hälfte seines Gases aus Russland bezogen. "Der Energiehunger ist so gross, dass er durch grössere Lieferungen, zum Beispiel aus Norwegen und den USA, nur schwer gedeckt werden kann", so von Soest.
Aus seiner Sicht ist es geboten, den Preisdeckel für Öl stärker durchzusetzen, ihn vielleicht sogar weiter zu senken. Ebenso sollte auch indirekt kein russisches Gas in Deutschland landen.
Unternehmen weiter in Russland aktiv
Und noch an weiteren Punkten könnte man ansetzen, wenn die Sanktionen verschärft werden sollen: "Es gibt immer noch Banken, wie die Gazprom-Bank, die nicht sanktioniert und nicht vom Swift-System ausgeschlossen sind", sagt er. Zahlen der EU-Kommission zeigten zuletzt: Trotz des Angriffs auf die Ukraine sind weiterhin rund 60 Prozent der internationalen Konzerne in Russland aktiv.
Von Soest rät: "In der öffentlichen Kommunikation ist es wichtig, noch deutlicher zu vermitteln, dass wir nicht nur aufs Wirtschaftswachstum gucken können und dass die Sanktionen trotz allem einen erheblichen Schaden für Russland bedeuten." Man könne trotz allem davon ausgehen, dass die russischen Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas massiv zurückgegangen sind. "Schätzungen gehen von 40 Prozent aus. Denn Russland ist oft gezwungen, Preisabschläge zu geben", sagt er.
Über den Experten:
- Prof. Dr. Christian von Soest forscht zu internationalen Sanktionen und Interventionen, autoritären Regimen und Aussenpolitik. Er ist Leiter des Forschungsschwerpunkts "Frieden und Sicherheit" am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA). Am 6. Oktober 2023 erscheint sein neues Buch: "Sanktionen: Mächtige Waffe oder hilfloses Manöver?" im Verlag Frankfurter Allgemeine Buch.
Verwendete Quellen:
- Europäische Kommission: Sommerprognose 2023: EU-Wirtschaft wächst langsam, robuster Arbeitsmarkt und sinkende Inflation machen Hoffnung
- spiegel.de: Russlands Wirtschaft wächst stärker als erwartet (Bezahlinhalt)
- spiegel.de: Europa ist Putins bester Kunde (Bezahlinhalt)
- tagesschau.de: Nur 40 Prozent der Firmen haben Russland verlassen
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