Was passiert, wenn das Schweizer Stimmvolk den Bau eines zweiten Gotthard-Strassentunnels ablehnt? Welche Alternativen gibt es? Die Gegner einer zweiten Röhre sind überzeugt, dass eine "Rollende Landstrasse" mit Verladelösung während der Sanierungsphase des bestehenden Tunnels ausreicht. Die Befürworter einer zweiten Röhre halten diese Verladelösung für eine realitätsferne Bastelei.
Am 28. Februar entscheidet das Schweizer Stimmvolk über den Bau eines zweiten Strassentunnels am Gotthard. Erst wenn dieser in Betrieb ist, soll der bestehende Tunnel saniert werden.
Dieses Vorgehen soll gemäss dem Bundesrat garantieren, dass die wichtige Nord-Süd-Strassenverbindung via Gotthard stets befahrbar ist.
Doch was passiert, wenn das Volk dieser Lösung die Zustimmung verweigert? Wie könnte das Fahrzeugaufkommen am Gotthard (5 Millionen Personenwagen und 900‘000 Lastwagen jährlich) bewältigt werden, wenn der Tunnel während einer Sanierung geschlossen wäre?
Umleitung ist ausgeschlossen
Eine Umleitung des alpenquerenden Verkehrs auf Ausweichrouten scheint ausgeschlossen. Weder der San Bernardino noch der Simplon oder der Grosse Sankt Bernhard haben entsprechende Kapazitäten oder sind für Lastwagen geeignet.
Als Alternative scheint nur eine Lösung in Frage zu kommen: Der Verkehr müsste auf die Bahn verlagert werden. Es müsste eine so genannte "Rollende Landstrasse" (RoLa) geschaffen werden.
Lastwagen würden auf spezielle Niederflurwagen der Bahn verladen, die zwischen Basel im Norden sowie Chiasso/Novara im Süden verkehren. Zusätzlich zu dieser Verladelösung zwischen der Nord- und Südgrenze des Landes würde es noch eine so genannte "Kurz-RoLa" geben, die für den Verlad zwischen Erstfeld und Biasca vorgesehen wäre.
Alter Basistunnel hätte Kapazitäten
In beiden Fällen würde die RoLa durch den neuen Gotthard-Basistunnel verkehren, der im Juni 2016 eröffnet und im Dezember 2016 in Betrieb genommen wird.
Für Personenwagen würde hingegen der Bahnverlad zwischen Airolo und Göschenen durch den alten Gotthard-Scheiteltunnel reaktiviert. Dank des neuen Gotthard-Basistunnels wird der alte Bahntunnel über frei werdende Kapazitäten verfügen.
Sobald dieser Verlad eingerichtet wäre, könnte der bestehende Strassentunnel saniert werden. Der Bahnverlad garantiert laut Gegnern einer zweiten Röhre eine sichere Nord-Süd-Verbindung auch während der Sanierungszeit.
Kostengünstiger, aber…
Obwohl die Schweizer Regierung zum Schluss kam, dass diese Lösung technisch machbar wäre (siehe Kasten), wurde sie aus unterschiedlichen Gründen verworfen.
Der wichtigste Grund ist, "dass sie keinen bleibenden Mehrwert schafft". Die Verladestationen müssten wieder zurückgebaut werden, sobald der Gotthard-Strassentunnel saniert wäre.
Nach 30 oder 40 Jahren, wenn die nächste Totalsanierung des Gotthard-Tunnels ansteht, würde man vor dem gleichen Problem wie heute stehen.
Noch fehlt die Infrastruktur
Auch die Verladestationen selbst sind nicht unproblematisch. Es bräuchte viel Land, um diese Infrastruktur aufzubauen. Und in den betroffenen Gemeinden stossen solche Pläne auf Widerstand.
Die Gegner einer zweiten Tunnelröhre am Gotthard sind schon immer Befürworter einer temporären RoLa gewesen. Doch seit kurzem wird diese Idee auch von einer Gruppe von politisch unabhängigen Ingenieuren und Verkehrsexperten vertreten, darunter viele ehemalige SBB-Kaderleute. Sie haben sich im Komittee "Sanieren ohne verlieren" zusammengeschlossen.
Ausgangssituation hat sich seit 2010 geändert
Warum machen sie sich für diese Variante stark? Wird hier nicht einfach alter Kohl wieder aufgewärmt?
Serge Anet, Sprecher des Komitees, verneint dies. Denn seit dem Jahr 2010, als die Machbarkeitsstudie für die RoLa erschien, sei ein wichtiges neues Element hinzugekommen. "Das Parlament hat einem Kredit für einen 4-Meter-Korridor zwischen Basel und Chiasso/Novara zugestimmt", hält Anet fest.
Dank dieses Kredits von 990 Millionen Franken wird das Lichtraumprofil von Bahntunnels vergrössert, damit Sattelauflieger mit einer Eckhöhe von 4 Metern auf Güterzügen transportiert werden können (diese Sattelauflieger werden immer häufiger verwendet).
"Dieser Korridor erlaubt es, dass grosse Lastwagen von Grenze zu Grenze im unbegleiteten kombinierten Verkehr transportiert werden können, und nicht nur durch den neuen Gotthard-Basistunnel zwischen Erstfeld und Biasca (dieser neue Tunnel weist bereits das entsprechende Lichtraumprofil auf). Diese Tatsache wurde vom Parlament nicht genügend in Betracht gezogen, als der Entscheid über die zweite Strassenröhre am Gotthard fiel", betont Anet.
31'000 Autos und 3.300 Lastwagen
Auf der langen RoLa könnten 510 Camons pro Tag und Richtung transportiert werden. Stündlich müsste ein Zug verkehren. Die Kurz-RoLa könnte 1.140 Lastwagen pro Tag transportieren (zwei Züge pro Stunde und Richtung).
Die Gesamtkapazität beliefe sich so auf täglich 3.300 Camions. Zurzeit liegt der Spitzenwert an Lastwagen pro Tag im Gotthard-Strassentunnel bei 3.300.
Der Autoverlad zwischen Göschenen und Airolo könnte – bei acht Zügen pro Stunde – 16'000 Autos am Tag transportieren. An Spitzentagen liessen sich sogar 31'000 Fahrzeuge auf dem Bahnweg verladen.
Mathias Tromp, ehemaliger Direktor der Bahngesellschaft BLS, die am Lötschberg einen Autoverlad betreibt, ist überzeugt, dass sich dies auch am Gotthard machen lässt.
Allerdings sei der Autoverlad viel komplizierter, als es die Befürworter einen solchen Lösung glauben machten.
Ein System riskiert den Kollaps
Rein theoretisch könnte der Gotthard-Scheiteltunnel die Autozüge verkraften. Das Problem seien die Verladestationen, die für ein so hohes Verkehrsaufkommen nicht konzipiert seien, meint Tromp. Bei einer kleinen Panne sei die Gefahr real, dass das ganze System kollabiere.
Noch problematischer ist laut dem Ex-BLS-Direktor die Kurz-RoLa durch den neuen Gotthard-Basistunnel. "Der neue Basistunnel ist nicht konzipiert für ein Roll-In/Roll-Out-System, bei dem die LKW-Fahrer auf die Verladezüge fahren und im Führerraum sitzen bleiben, so wie es beispielsweise im Kanal-Tunnel zwischen Frankreich und England der Fall ist."
Kostbares Terrain für Verladestationen
Ein weiteres Hindernis für die RoLa besteht im Bau der Verladestationen. Diese benötigen zwischen 55'000 und 80'000 Quadratmeter Land. Das entspricht 8 beziehungsweise 12 Fussballfeldern.
Die Gegner einer Verladelösung betonen, dass es in den engen Tälern des Nordtessins (Leventina) und im Kanton Uri keinen Platz für solche gigantische Infrastrukturen gibt, auch wenn diese nach Abschluss der Sanierungsarbeiten am Tunnel wieder zurückgebaut werden.
Serge Anet anerkennt, dass es sich um ein grosses Problem handelt, weil diese Verladestationen im Talgrund gebaut werden müssten und so wichtiges Kulturland, auch für die Landwirtschaft, gebraucht werde.
Gleichwohl betont er, "dass für den Bau eines neuen Tunnels ein Installationsplatz von dreifacher Grösse nötig ist. Allein am Nordportal ist ein Fläche in der Grösse von 21 Fussballfeldern nötig".
Begrenzte Trassenverfügbarkeit
Für die Lang-RoLa durch die Schweiz stellt sich dieses Problem nicht. Sowohl im Norden – Raum Basel - als auch im Süden (Norditalien) gibt es ausreichend Verladekapazitäten.
Mathias Tromp zeigt sich gleichwohl skeptisch. Denn auch die Lang-RoLa stehe vor dem Problem, dass die Trassenverfügbarkeit im alpenquerenden Bahnverkehr beschränkt sei.
Nach der Inbetriebnahme des Ceneri-Basistunnels (2020) gehen die SBB davon aus, dass zwei Personenzüge sowie sechs Güterzüge pro Stunde und Richtung verkehren werden. "Die Trassen für diese zusätzlichen Züge – zwischen 80 und 100 – sind aber nicht vorhanden", meint Tromp.
Die Gruppe "Sanieren ohne verlieren" ist hingegen überzeugt, dass sich die Kapazität im Alpentransit am Gotthard auf acht Güterzüge pro Stunde und Richtung ausweiten liesse, indem die Geschwindigkeit der Personenzüge gedrosselt werde.
"Momentan ist vorgesehen, dass zwei oder drei Güterzüge pro Stunde und Richtung verkehren werden", meint Serge Anet. "Daraus ergibt sich eine Reserve für mindestens einen Zug pro Stunde auf der Kurz-Rola und zwei Züge auf der Lang-Rola."
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