Wegen des starken Schweizer Frankens erreicht die Arbeitslosigkeit in der Schweiz den höchsten Wert seit sechs Jahren. Die Situation ist für die über 170'000 Grenzarbeiter aus Frankreich besonders schlimm, aber auch für die Kassen der französischen Arbeitslosenversicherung. Die Lage ist beunruhigend.
Die Schweiz wird häufig als Insel des Wohlstands und der Vollbeschäftigung mitten in einem krisengeschüttelten Europa wahrgenommen. Aber das Klischee passt immer weniger zur Realität der Zahlen. Im ersten Trimester 2016 ist die Arbeitslosigkeit (gemäss Definition der Internationalen Arbeitsorganisation) in der Schweiz auf 5,1% gestiegen – der höchste Wert seit sechs Jahren.
Innerhalb eines Jahres ist die Quote um 0,7 Prozentpunkte gestiegen, eine Entwicklung, die im Gegensatz zur sinkenden Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union steht (-1 auf 10,7%).
Grund dafür ist insbesondere der starke Franken, der die Industrie belastet. Besonders betroffen ist die Uhrenindustrie, die einen Abschwung erlebt wie noch nie seit der Krise von 2009. Von Genf bis zum Jura-Bogen sind die französischen Anrainerregionen besonders vom Phänomen betroffen. Die Arbeitslosenquote beträgt dort teils über 7%, wie etwa in der Schweizer Uhrenhauptstadt La Chaux-de-Fonds.
Die Grenzgänger erscheinen nicht in den Schweizer Statistiken. Zudem werden in wirtschaftlich schwierigen Zeiten "als Erstes diejenigen Mitarbeiter entlassen, die einen befristeten Vertrag oder einen Zeitarbeitsvertrag haben", sagt Cyril Pellevat, Senator von Hoch-Savoyen und Präsident der interparlamentarischen Freundschaftsgruppe Frankreich-Schweiz. "Und das sind meist französische Grenzarbeiter."
Gemäss der Grenzgänger-Organisation "Groupement transfrontalier européen" sind zurzeit fast 17'000 Grenzgänger in Frankreich arbeitslos. "Nach der Brexit-Abstimmung wird sich die Situation wohl weiter verschlechtern, weil sich dieser Entscheid auf die Bewertung des Schweizer Frankens auswirkt", meint Pellevat.
Ein Loch von 300 Millionen Euro
Diese Sorge wird von zahlreichen Politikern und Verantwortungsträgern in Frankreich geteilt, besonders auch von der französischen Arbeitslosenversicherung Unédic. Seit 2009 werden die Arbeitslosengelder der Grenzgänger nicht mehr nach Frankreich ausbezahlt. Dies als Folge des Abkommens über die Personenfreizügigkeit von 2002 zwischen der Schweiz und der EU.
Eine neue EU-Regelung sieht seit dem 1. April 2012 vor, dass die Schweiz während den ersten drei bis fünf Monaten Arbeitslosengelder an die französischen Grenzgänger ausrichtet. Nach dieser Frist muss jedoch die Unédic zahlen.
Im Jahr 2014 hat Frankreich 460 Millionen Euro an arbeitslose Grenzgänger ausbezahlt, während die Schweiz nur 131 Millionen Euro beigetragen hat. "Das ergibt ein Negativsaldo von 329 Millionen Euro", sagt die Unédic gegenüber swissinfo.ch.
Zwischen 2008 und 2014 – die Zahlen von 2015 sind noch nicht bekannt – haben die Auszahlungen an Grenzgänger um das Zweieinhalbfache zugenommen. Die Unédic hat deshalb im Dezember 2015 eine Anfrage an die Arbeitsministerin Myriam El-Khomri geschickt, damit diese die Verhandlungen mit der Schweiz wiederaufnimmt.
Diesen Weg begrüsst auch Jean-Claude Carle, Senator von Hoch-Savoyen, der im März ebenfalls der Arbeitsministerin geschrieben hat. "Die geltenden Regelungen sind ungerecht und unausgeglichen. Vor 2009 hat die Schweiz fast 90% der von Grenzgängern einbezahlten Gelder an Frankreich rückübertragen. Die französische und die schweizerische Regierung müssen sich dringend an den Verhandlungstisch setzen und ein neues Abkommen aushandeln", betont er.
Beachtlicher Vorteil für die Schweiz
Die Schweiz ihrerseits versteckt sich hinter dem EU-Recht, das für sie in den letzten Jahren sehr vorteilhaft war. 2015 bezahlte sie 193 Millionen Franken an Arbeitslose im Ausland – fast zwei Drittel nach Frankreich –, was deutlich weniger ist als die 418 Millionen Franken, die von den Grenzgängern gemäss Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) in die Arbeitslosenkassen einbezahlt werden.
"Die Arbeitslosenentschädigung für Grenzgänger wird gesamteuropäisch immer durch den Wohnstaat nach dessen nationaler Regelung ausgerichtet. Die aktuelle Regelung der Kostenteilung wurde von den EU-Staaten festgelegt und von der Schweiz im Rahmen der Personenfreizügigkeit übernommen", erklärt SECO-Sprecher Fabian Maienfisch.
Eine Regelung, die nicht alle EU-Länder zufriedenstellt, aber nur schwer zu revidieren sei, meint Guylaine Riondel Besson, Direktorin des juristischen und sozialen Dienstes vom "Groupement transfrontalier européen". "Um das Reglement zu ändern – und sei es auch nur ein Komma –, braucht es die einstimmige Zustimmung der 28 Mitgliedsstaaten. Es ist ein extrem langwieriger Weg."
Zerschlagene Hoffnungen
Die Angelegenheit könnte zwischen Frankreich und der Schweiz sehr schnell mit einem bilateralen Abkommen geregelt werden. Aber auch diesbezüglich haben sich die Hoffnungen des "Groupement transfrontalier européen" vor zwei Wochen an einem Treffen in Paris zerschlagen. "Das Arbeitsministerium hat uns mitgeteilt, dass es bei der Schweiz vorstellig wurde, diese aber am Gemeinschaftsrecht festhält und kein bilaterales Abkommen mit Frankreich abschliessen will", sagt Besson.
Jean-Claude Carle kritisiert seinerseits den mangelnden politischen Willen Frankreichs: "Dieses Dossier ist ganz klar nicht prioritär für die Regierung. Wenn man aber das enorme Defizit der französischen Sozialversicherungen kennt [die Unédic hat 25 Milliarden Euro Schulden], ist die jetzige Situation unhaltbar."
Cyril Pellevat stellt bei Paris ebenfalls ein mangelndes Interesse in dieser Angelegenheit fest. "Unser Anliegen wird leider etwas ins Abseits gedrängt. Wir möchten gerne ernster genommen werden, weil es heute einen grossen Austausch zwischen Frankreich und der Schweiz gibt", sagt er.
© swissinfo.ch
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