Die EU schätzt, dass Produktpiraterie in Europa für Umsatzeinbussen von mindestens 60 Milliarden Euro sorgt. Die tatsächliche Summe dürfte noch höher liegen, sagt ein Experte: "Gefälscht wird alles, was nachgefragt wird."
Es geht um die täuschend echte Sporthose, die aussieht wie das Modell eines bekannten Herstellers. Es geht um Medikamente oder Smartphones, die im Internet viel günstiger sind als in der Apotheke oder im Handel. Gefälschte Produkte werden in vielen Branchen angeboten.
Das hat Folgen: Für Käufer, die sich mit minderwertigen Waren Gefahren aussetzen können, aber auch für die gesamte Wirtschaft. Das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) schätzt, dass Marken- und Produktpiraterie in elf wichtigen Wirtschaftszweigen in der EU für einen jährlichen Schaden von bis zu 60 Milliarden Euro sorgt. Allein auf Deutschland sollen davon 7,1 Milliarden Euro entfallen.
Zoll deckt mehr Verstösse auf
Bis zu 6,8 Prozent der Einfuhren in die EU bestehen laut EUIPO aus gefälschten Waren – womit die Zahl seit 2016 gestiegen wäre. Eine ähnliche Tendenz meldet der deutsche Zoll: 2018 griffen dessen Beamte 5,06 Millionen Waren wegen Verstössen gegen Regeln des geistigen Eigentums auf. 2017 waren es noch 3,3 Millionen.
Wenn ausländische Fälschungen auf dem Markt sind, können Hersteller von Originalprodukten weniger Waren absetzen. "Betroffene Unternehmen müssen ihre Kosten gegebenenfalls anpassen, um global wettbewerbsfähig zu bleiben – und das kann zu Restrukturierungen inklusive dem Abbau von Arbeitsplätzen führen", erklärt Jens Greiner, Berater für das Thema bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst&Young. Das EUIPO geht davon aus, dass bei einem jährlichen Schaden von 60 Milliarden Euro bis zu 468.000 Arbeitsplätze in der EU verloren gehen.
Auch Maschinenbau betroffen
"Vermutlich sind die Verluste für die gesamte Wirtschaft eher noch wesentlich höher", sagt Volker Bartels im Gespräch mit unserer Redaktion. Er ist Vorstandsvorsitzender des Aktionskreises gegen Produkt- und Markenpiraterie, einer Gemeinschaftsinitiative des Deutschen- Industrie- und Handelskammertages, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und des Markenverbandes. Der errechnete Schaden beziehe sich ja lediglich auf elf ausgewählte Wirtschaftszweige, sagt Bartels. Darunter fallen etwa Kleidung, Kosmetika, Spielzeug, Uhren und Medikamente.
Doch es gibt weitere Bereiche, die mit dem Problem zu kämpfen haben und in der EU-Schätzung nicht auftauchen. "Der Maschinen- und Anlagenbau gehört zu den Branchen, in denen Fälschungen weniger bekannt sind. Es gibt aber zum Beispiel Schwarzmärkte für Autoteile, auf denen etwa Kupplungen oder Gelenke angeboten werden", erklärt Jens Greiner. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau schätzt den Schaden für die Branche in Deutschland auf rund 7,3 Milliarden Euro.
"Gefälscht wird alles, was erfolgreich ist und nachgefragt wird", sagt Volker Bartels. Das gelte auch für Airbags und Bremsen, für Werkzeuge, Küchengeräte, Kontaktlinsen oder sogar Europaletten. Zum wirtschaftlichen Schaden kommen in vielen Fällen Gefahren für die Verbraucher: Minderwertige Bremsscheiben stellen genauso ein Risiko dar wie nachgemachte Medikamente. Laut EU-Zollstatistik könnten 43 Prozent der bei der Einfuhr aufgegriffenen gefälschten Waren gesundheitsgefährdend sein.
Die meisten Produktfälschungen stammen offenbar aus Asien. Der EUIPO zufolge sind die fünf Länder, aus denen die meisten Waren in die EU gelangen, Hongkong, China, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indien. Nach Erkenntnissen der europäischen Polizeibehörde Europol bauen Fälscherbanden allerdings auch zunehmend Produktionsstätten innerhalb der EU auf, um Transportkosten zu senken.
Greiner: "Unternehmen müssen sich selbst helfen"
Grosse Konzerne wie Hugo Boss oder Daimler setzen inzwischen eigene Fachleute und Privatermittler ein, um Banden auf die Schliche zu kommen. "Der Staat unterstützt bis zu einem gewissen Grad die Wirtschaft. Unternehmen müssen sich aber auch selbst helfen und wappnen", glaubt Berater Jens Greiner. "Grosse Firmen leisten sich daher eigene Experten. Gerade Mittelständler sind da eher dünn aufgestellt, gerade wenn es um global agierende Fälscher geht." Aus Sicht eines betroffenen Unternehmens sei es daher ratsam, sich frühzeitig mit externen, global aufgestellten Beratern und Spezialisten zu vernetzen: "Um besonders grosse, knifflige und grenzüberschreitende Fälle untersuchen und behandeln zu können."
Produktfälscher profitieren vor allem von den Möglichkeiten des Internets, um gefälschte Waren zu bewerben und zu vertreiben. Volker Bartels sieht daher auch die grossen Online-Handelsplattformen in der Pflicht, sich bei dem Thema stärker zu engagieren: "Sie verdienen am Verkauf von Fälschungen und stehen damit in der Verantwortung."
Letztlich spielen aber auch die Kunden eine Rolle. Eine Studie der EUIPO von ergab 2017 zwar, dass 97 Prozent der EU-Bürger Markenschutz wichtig finden. Allerdings verleiten niedrige Preise viele Käufer offenbar trotzdem dazu, gefälschte Produkte zu kaufen: 27 Prozent aller Befragten und 41 Prozent der 15- bis 24-Jährigen waren demnach der Meinung: Wenn das Original zu teuer ist, sei es auch in Ordnung, ein gefälschtes Produkt zu kaufen.
Verwendete Quellen:
- Volker Bartels, Aktionskreis gegen Produkt- und Markenpiraterie e.V.
- Jens Greiner, Ernst&Young Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
- Aktionskreis gegen Produkt- und Markenpiraterie: Fact-Sheet
- EUIPO, Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum: Statusberichte über Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums
- Zeit.de: Schnäppchen mit Gefahr für Leib und Leben
- Zoll: Gewerblicher Rechtsschutz – Statistik für das Jahr 2018
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