Griechenland rutscht immer tiefer in die Krise. Der Schuldenberg ist auf 180 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung angewachsen. Mehr als jeder zweite Jugendliche ist ohne Arbeit. Die Wirtschaft droht zu stagnieren. Die Rufe jener, die die Austeritätspolitik der EU für den falschen Weg halten, werden nicht nur in Athen lauter. Unsere Autorin Mirjam Moll hat mit Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel vom Institut Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen gesprochen - einem Gegner der Sparmassnahmen.
Herr Hickel, die europäischen Geldgeber, allen voran Bundeskanzlerin
Rudolf Hickel: Nein, sicher nicht.
Warum nicht?
Wir haben seit 2010, also seit die ersten Sparauflagen durchgesetzt wurden, eine ganz wichtige Erfahrung gemacht. Mit diesen Auflagen, die neben der Reduzierung der Staatsausgaben auch bezogen auf die Masseneinkommen Steuererhöhungen und Privatisierungen beinhaltete, wollte man Wirtschaftswachstum und mehr an Steuereinnahmen erzeugen. Es war immer ein Tauschmodell: Finanzhilfen gab es nur, wenn gleichzeitig Austeritätspolitik betrieben wurde.
Was ist falsch an dieser Politik?
Wir wissen rückblickend, dass dadurch massiv die Ökonomie in die Knie gezwungen wurde. Gegenüber 2009 bis Ende 2014 ist die Wirtschaft um ein Viertel eingebrochen und das Bruttoeinkommen der privaten Haushalte um knapp ein Viertel gesunken. Das ist etwas, was in Deutschland kaum bekannt gemacht wird – es ist sehr viel im öffentlichen Haushalt mit sozialen Folgen abgebaut worden. Die zahlreichen Entlassungen und die Absenkung von Löhnen und Mindestlöhnen haben die Binnenwirtschaft stark belastet. Man ist mit den Einsparungen zu weit gegangen. Ein Beleg dafür ist eine Einschätzung des Internationalen Währungsfonds, der schon im Juni 2013 eingestanden hat, dass die negativen Auswirkungen der Sparpolitik unterschätzt worden sind. Dort hat man errechnet, dass 100 Euro, die eingespart wurden, die Produktion um mehr als das Zweifache schwächen. Das ist der Ausgangspunkt. Das Ergebnis kennen wir heute: Ein völliger Einbruch der Produktion, extrem hohe Arbeitslosigkeit, vor allem bei der Jugend, und eine Staatsschuldenquote, die sogar noch gestiegen ist.
Wie reagierte die Politik darauf?
Das ist eigentlich ein bitteres Urteil. Denn sie nimmt diese Erfahrungen nicht auf, sondern sagt, dass es keine Alternative gibt. Die letzte Tranche des zweiten Hilfspakets über 7,2 Milliarden Euro gibt es nur, wenn dieses Muster der Austerität fortgesetzt wird. Was dabei sicher eine grosse Rolle spielt, ist zum einen die Schuldenbremse in Deutschland, zum anderen der Finanzpakt, den die Euroländer geschlossen haben. Dort hat man eine massive Reduktion der Staatsschulden durch den Abbau staatlicher Ausgaben vorprogrammiert. Ministerpräsident Tsipras wehrt sich dagegen, weil er sagt, dass weitere Einschränkungen seinem Land nur noch mehr schaden, vor allem die soziale Spaltung vertiefen.
Aber Griechenland zahlt höhere Renten als andere EU-Staaten wie die Slowakei, die keine Schuldenprobleme hat.
Sicher, vor allem der Einstieg in die Frühverrentung kann so nicht bleiben, das ist klar. Aber dass die Austeritätspolitik zu weit getrieben worden ist, ist inzwischen auch in der deutschen Wissenschaft angekommen.
Mit dieser Politik waren doch auch viele Milliarden an Hilfsgeldern verbunden...
Die Tragik besteht eigentlich darin, dass von den fast 240 Milliarden ungefähr 90 Prozent nicht als frisches Geld in Griechenland eingesetzt worden sind. Sie wurden zur Anschlussfinanzierung griechischer Staatsanleihen genutzt. Das ist das grosse Dilemma. Einerseits soll mit belastenden Folgen für die Gesamtwirtschaft gespart werden, andererseits kommen die Finanzhilfen gar nicht da an, wo sie gebraucht werden: in der Wirtschaft.
Gibt es denn überhaupt eine Alternative zum bisherigen Sparkurs?
Eines muss allen klar sein: Griechenland ist in nächster Zeit nicht in der Lage, aus eigener Kraft aus der Krise zu kommen. Varoufakis vermittelt immer wieder, dass man nur ein paar Monate mehr Zeit braucht. Das ist Quatsch.
Wie also kann man Griechenland helfen?
Zu einem Rettungsprogramm gehört vor allem eine vertrauensbildende Massnahme: ein Sonderprogramm gegen die Armut. Wer in letzter Zeit in Athen gewesen ist, konnte sehen, wie die die Armut längst die Mittelschicht erreicht hat. Die Gesundheitsversorgung funktioniert nicht mehr. Da müssen die Geberländer bedingungslos helfen. So ein Programm könnte unmittelbar umgesetzt werden. Damit erreichte man einen Zeitgewinn, innerhalb dessen man die Chance bekäme, über langfristige Lösungen zu reden.
Wie sähe die denn aus?
Bislang wird in der EU überhaupt nicht darüber gesprochen, wie ein Wirtschaftsstärkungsprogramm aussehen könnte – allerdings auch nicht in Griechenland. Vorher brauchen wir aber eine Altschuldenregelung. Die Kredite haben zwar schon jetzt lange Laufzeiten - es gibt dennoch eine Belastung mit Zinsen und vor allem den Streit über die künftige Anschlussfinanzierung fälliger Staatspapiere. Das gesamte Schuldenproblem müsste man also aus dem Rettungsprogramm rausnehmen und gesondert abwickeln: in einem international gesicherten Schuldenfonds. Erst dann kann man in einem nächsten Schritt den Wiederaufbau der Wirtschaft angehen. In der Exportwirtschaft fehlt es an wettbewerbsfähigen Unternehmen; viele Betriebe sind abgewandert, wie die chemische oder die Textilindustrie.
Ausserdem muss die Infrastruktur gestärkt werden. Eines aber muss klar sein: Die Lösung für Griechenland liegt im Wachstum mit Jobzuwächsen– dazu gibt es keine Alternative.
Was kann die Athener Regierung dafür tun?
Griechenland muss etwas vorlegen, wie man gegen Korruption vorgehen und das Steuersystem einigermassen handlungsfähig machen kann. Was Athen braucht, ist ein Programm gegen Steuerhinterziehung und der Aufbau einer effektiven Verwaltung. In diese Richtung müsste es gehen. Wenn das nicht klappt, sehe ich für das Land keine Chancen mehr.
Gerade beim Kampf gegen Steuerhinterziehung haben viele grosse Hoffnungen in die neue Regierung gesetzt. Warum wurde bisher nichts umgesetzt?
Das ist eine Kritik, die ich voll teile. Griechenland hat nicht einmal ansatzweise seinen Beitrag dazu geleistet. Tsipras hat sich in Brüssel zwar immer wieder geläutert gezeigt. Dann kehrte er nach Griechenland zurück, wo er einem extrem linken Flügel in seiner Partei gegenüberstand. Der Lösungspfad ist wegen der ständigen Drohungen weitere Kürzungen verschüttet. Wenn man diesen Druck durch Staatshaushaltsabbau wegnimmt, wäre es leichter, diese Themen anzugehen.
Das mag sein, aber auch bei der Besteuerung der Reichsten des Landes hat sich bislang nichts getan – das muss doch im Sinne einer linken Partei sein?
Das ist richtig. Aber es ist eine Prioritätenliste entstanden. Die Politik in Griechenland schaut immer nur auf die neuen Opfer, auf der anderen Seite wird dadurch der Eigenbeitrag verdrängt. Ich habe auch das Gefühl, dass die Regierung bei der Steuerhinterziehung nicht richtig vorankommt. Es wurde viel Zeit vertan.
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