Der Tarifkampf in der Metall- und Elektrobranche geht in die heisse Phase. Bis Freitag hat die IG Metall rund 500.000 Angestellte zu Warnstreiks aufgerufen. Vor allem die Forderung nach der 28-Stunde-Woche schreckt die Arbeitgeber. Arbeitsmarktexperten hingegen finden den Vorstoss durchaus charmant - allerdings mit Einschränkungen.
Sechs Prozent mehr Lohn und die Möglichkeit zur 28-Stunden-Woche - das sind die Kernforderungen der IG Metall im aktuellen Tarifstreit.
Das Schlagwort von der 28-Stunden-Woche wird dabei oft falsch interpretiert. Anders als bei den Verhandlungen um die 35-Stunden-Woche in den 80er-Jahren geht es derzeit nicht um weniger Arbeitszeit für alle, sondern um das Recht, in bestimmten Lebenssituationen die Stundenzahl zu reduzieren.
Die IG Metall fordert, dass etwa junge Väter oder Mütter, aber auch Menschen, deren Eltern Pflege brauchen, bis zu zwei Jahre lang weniger arbeiten können. Sie sollen dann nicht nur einen Lohnausgleich bekommen, sondern auch das Recht, am Ende wieder mit voller Stundenanzahl in ihren Job zurückzukehren.
In den Verhandlungen über die 28-Stunden-Woche sieht Dr. Alexander Spermann eine "Chance für moderne Arbeitszeitregelungen." Er ist Arbeitsmarktexperte an der Universität Freiburg und sagt, die Forderung der Gewerkschaft sei verständlich, "weil nach Umfragen fast jeder zweite Beschäftigte sich weniger Arbeit wünscht."
Doch das Ergebnis der Tarifverhandlungen müsse auch arbeitsmarktpolitische Probleme berücksichtigen. Spermann meint damit den derzeitigen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften: "Eine Arbeitszeitverkürzung macht wenig Sinn, wenn viele Aufträge da sind und ohnehin schon Fachkräfte fehlen."
Eine Regelung, die weniger Arbeit mit Lohnausgleich und Rückkehrrecht belohne, sei daher die falsche Lösung. Weniger zu arbeiten solle zwar möglich werden – aber ohne finanziellen Ausgleich.
Und die Gewerkschaften müssten sich auch für Flexibilität auf der anderen Seite öffnen: "Es muss auch möglich sein, dass man mehr arbeitet." In der Tat sehen repräsentative Umfragen unter den Arbeitnehmern beide Lager ungefähr gleichauf: Eine Hälfte möchte weniger, die andere mehr arbeiten.
"Ungleichbehandlung beim Stundenlohn ist heikel"
Dr. Hagen Lesch, Tarifexperte vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, sieht ein weiteres Problem: Wer seine Arbeitszeit verkürzt und dann einen tariflich ausgehandelten Lohnzuschlag bekommt, erreicht einen höheren Stundenlohn als derjenige, der weiter die volle Stundenzahl arbeitet.
"Eine Ungleichbehandlung beim Stundenlohn – das ist heikel", warnt Lesch. Gegen eine solche Regelung könne geklagt werden. Dass vor einem Tarifabschluss zunächst für Rechtssicherheit gesorgt werden müsse, ist seiner Ansicht nach "Prämisse Nummer eins".
Doch auch Lesch sieht in den Verhandlungen eine Chance: "Die Idee, dass man ein lebensphasenorientiertes Arbeiten möglich macht", sei nicht neu. So können sich beispielsweise Beschäftigte in der Chemieindustrie durch vorübergehende Mehrarbeit eine spätere Arbeitszeitverkürzung ansparen. Solche Modelle setzten voraus, so Lesch, "dass man sich seine Reduzierung sozusagen selbst finanziert".
Das Neue an den Forderungen der IG Metall, "dass man die Arbeitszeitreduzierung gezielt im Hinblick auf Kindererziehung und Pflege macht", findet der Wissenschaftler positiv.
Doch mit der Forderung nach finanziellem Ausgleich liege die Gewerkschaft falsch. Wie sein Kollege Spermann plädiert auch Lesch für die Möglichkeit zur Mehrarbeit: "Sonst wandern die Aufträge ins Ausland, dorthin, wo es mehr Arbeitskräfte gibt."
Da eine grosse Mehrheit der Mitglieder ihre Forderungen befürwortet, hat die IG Metall gute Karten, sich zumindest teilweise durchzusetzen.
"Wann, wenn nicht jetzt?"
Die Forderungen der Gewerkschaft seien "wohlüberlegt und ernst gemeint", sagt Alexander Spermann und sieht auch ein strategisches Element: "Die Gewerkschaften wollen neue Mitglieder, vor allem junge." Diese Klientel werde durch Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung angesprochen.
Zudem ist der Zeitpunkt günstig gewählt: "Wenn nicht jetzt, wann dann?" fragt Spermann. Die wirtschaftliche Situation und die Lage auf dem Arbeitsmarkt seien optimal für Lohnforderungen – "das spiegelt sich in der Sechs-Prozent-Forderung wider".
Die Arbeitgeber sprechen im Moment zwar von nur zwei Prozent Lohnerhöhung. Doch man werde sich wohl, wie bei Lohnverhandlungen üblich, etwa in der Mitte treffen: "Am Ende wird es auf plus/minus vier Prozent hinauslaufen."
Und auch beim Thema Arbeitszeit werde man sich über kurz oder lang auf eine Verständigung zubewegen, glaubt Spermann. "Die Gewerkschaften brauchen einen Erfolg, die Unternehmen brauchen Fachkräfte."
Möglichkeiten zum Kompromiss sieht er etwa in der Gestaltung der Rückkehrmöglichkeit: Wer nur um drei Stunden reduziere, dem werde man womöglich eine Rückkehrmöglichkeit zur alten Stundenzahl garantieren. Statt der 28-Stunden-Woche für zwei Jahre könne man sich auf eine 30-Stunden-Woche für ein Jahr einigen. Auch über das Ob und die Höhe eines Lohnausgleichs werde zwischen den Tarifparteien bereits verhandelt.
Auswirkungen auch auf andere Branchen
Grundbedingung für eine Einigung beim Thema Verkürzung der Arbeitswoche sei allerdings - da sind sich beide Wissenschaftler einig - eine Öffnung der Gewerkschaften für Mehrarbeit : "Die Gewerkschaften müssen sich klar sein, dass es auch Menschen gibt, die mehr arbeiten wollen", sagt Spermann, "zum Beispiel junge Familien, die für ihr Häuschen sparen wollen".
Das Ergebnis des Tarifkonflikts wird wohl nicht nur für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie von Bedeutung sein. Arbeitszeiten, die sich an den Erfordernissen der jeweiligen Lebensphase orientieren, wünschen sich Arbeitnehmer in allen Branchen. "Das werden sich alle genau ansehen", meint Spermann.
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