70 Jahre ist es her. Im März 1948 wurde in Zürich ein Selbstbedienungsladen eröffnet. Es war der erste der Schweiz und einer der ersten Supermärkte in Europa. Die Idee stammte vom Schweizer Unternehmer und Politiker Gottlieb Duttweiler. Der Philanthrop vermachte sein Unternehmen seinen Kunden und entwickelte das Konzept des "sozialen Kapitals".

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Auf einer Reise in den USA hatte Duttweiler erstmals Self-Service-Läden gesehen. Und er beschloss, dieses Modell auch auf dem alten Kontinent zu verwirklichen. Er war Eigentümer mehrerer Läden.

Damals war es absolut nicht üblich, dass ein Kunde seinen Warenkorb selbst füllte und sich an der Kasse anstellte. Offenbar gewöhnten sich die Schweizer Kunden aber schnell an die neue Mode. Das machen bereits die Bilder von der Eröffnung des ersten Migros-Selbstbedienungsladens an der Zürcher Seidengasse deutlich. Sicherlich war es ein genialer Einfall, das Ambiente an einen Markt anzugeichen und einen gewissen häuslichen Anstrich zu geben.

Dutti, wie Gottlieb Duttweiler allseits genannt wurde, passte sich dem Geschmack der Hausfrauen an, seiner wichtigsten Klientel, die er sehr gut kannte. Duttweiler war bereits seit 1925 mit eigenen Verkaufswagen präsent. Und er verringerte die Verdienstmarge für den Kaufmann von den üblichen 20-25% auf 8%.

Blumen und runde Preise

Duttweiler eroberte seine Klientel auch mit Blumen: Bereits 1947 verkaufte er in seinen Läden Blumen, was bis anhin ausschliesslich speziellen Blumenläden vorbehalten war. Bei Migros konnte man einen Strauss Nelken mit 16 Stück für 1 Franken kaufen. Im Blumenladen kostete eine Nelke 50 Rappen.

Runde Preise verlangte Duttweiler bereits, bevor er eigene Geschäfte eröffnete und noch mit Verkaufswagen unterwegs war. Mit solchen Preisen wollte er vermeiden, dass die Fahrer wegen des Rückgeldes zu viel Zeit verlieren.

Sicher ist: Dank Duttweiler hielten Nelken und Rosen Einzug in weniger vermögende Familien, genauso wie er mit der Gründung seiner Reisefirma "Hotelplan" im Jahr 1935 "Ferien für alle" möglich machte.

Verzicht auf Zwischenhändler

Gottlieb Duttweiler (1888-1962) war der Sohn eines Kaufmanns. Bereits als junger Mensch reiste er durch ganz Europa und verkaufte Kaffee, Reis und andere Kolonialwaren. Mit 26 Jahren wurde er Direktor der Firma, an der er Minderheitsanteile hatte.

In der Zeit um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs lernte er, direkt mit den Produktionsländern zu verhandeln und eine Geschäftsidee ohne Zwischenhandel zu entwickeln.

Doch er unterschätzte die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre. Er verlor fast alles, wanderte nach Brasilien aus und versuchte sich dort als Farmer und Kaffeeanbauer.

Einige Jahre später kehrte er in die Schweiz zurück. Dabei arbeitete er an seinem Plan, eine direkte Kette zwischen Produzenten und Konsumenten aufzubauen. "Die Brücke" wurde zum Symbol und Markenzeichen der Firma, seine 1942 gegründete Wochenzeitung bekam den Namen "Brückenbauer" (heute: Migros-Magazin).

Weil Duttweiler anfänglich nicht das nötige Kapital hatte, um Läden zu eröffnen, erwarb er fünf Lieferwagen, um einen mobilen Verkauf von Lebensmitteln aufzubauen. Damit hat er das Bild des Schweizer Detailhandels verändert und über Jahrzehnte geprägt. Die Migros-Wägen waren noch bis nach dem Jahr 2000 in abgelegenen Gegenden unterwegs.

Die ersten Migros-Verkaufswagen (1925) verkauften nur wenige Produkte: Zucker, Teigwaren, Kaffee, Reis, Seife (Kokosfett auf Bestellung). Durch den Wegfall von Zwischenhändlern konnte Duttweiler seine Waren zu unschlagbar günstigen Preisen anbieten. Der Reis kostete beispielsweise nur die Hälfte im Vergleich zum handelsüblichen Preis. Vor allem Arbeiterfamilien waren zufrieden.

Duttweiler reinvestierte umgehend seine Gewinne ins Unternehmen. Die Verkaufswagen fuhren über Zürich hinaus aufs Land. Dann eröffnet er seinen ersten Laden in einem Arbeiterviertel der Stadt. Und mit der Zeit erhöhte er auch das Sortiment im Laden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Migros-Expansion nicht im Sinne der damaligen Detailhändler, Zwischenhändler und Markenhersteller war. Die Ladenbesitzer und Konsumvereine reagieren erbost. Sie setzen die Lebensmittelkonzerne unter Druck, die Migros nicht mehr zu beliefern.

Aus der Not eine Tugend

Es sind just die Markenhersteller, die Duttweiler auf eine Idee bringen, die sich für die Migros-Geschichte als genial erweisen sollte: Waren in Eigenproduktion herzustellen. 1928 kaufte Duttweiler seine erste Fabrik. Der erste Artikel der "Marke Migros" war Apfelsaft.

Und 1933, als ein Bundesbeschluss ein Filialeröffnungs-Verbot erliess, beschloss "Dutti" in die Politik einzusteigen. Er war Begründer der politischen Partei Landesring der Unabhängigen (LdU) – die Bewegung errang bereits 1935 sieben Sitze im Parlament.

Tatsächlich wollte Duttweiler mit seiner Bewegung und der Zeitung "Die Tat" nicht einfach ein Unternehmen verteidigen. Es war für ihn eine Plattform, um sich für eine neue soziale Marktwirtschaft einzusetzen.

Während des 2.Weltkriegs wurden Gottlieb Duttweiler und die Migros sehr bekannt. Das Unternehmen verbreitet auch Filme mit Ratschlägen zur Haushaltsführung. Es wurde aufgezeigt, wie sich Ressourcen besser nutzen lassen. Und es wurde damit Werbung für die eigenen Produkte gemacht.

Wehrhaftigkeit fördern

Neben wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigt sich Patriot Duttweiler intensiv mit der Landesverteidigung und fordert kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Beschaffung von 1000 Kampfflugzeugen oder Unterwassertanks für Nahrungsmittel, die er im Thunersee testen lässt.

Zudem ergreift er verlegerische Initiativen, um die Wehrhaftigkeit des Landes zu stärken, etwa das Buch für die Landesausstellung von 1939 und den Film "Landamann Stauffacher" von 1941.

In Hinsicht auf die Öffnung der Grenzen nach Ende des 2.Weltkriegs lanciert Duttweiler im Jahr 1944 Sprachkurse zu günstigen Preisen. Es ist der erste Schritt zu einem Volkshochschulprogramm, das bis heute als Migros-Klubschule existiert. Dieses Kursprogramm ist nach wie vor eine Besonderheit der Migros, auch im Vergleich zu anderen Genossenschaften.

Geburt der Migros-Genossenschaft

Just in die letzten Kriegsjahre fällt der vielleicht revolutionärste Schritt von Gottlieb und Adele Duttweiler: Sie verwandeln die Migros in eine Genossenschaft, indem sie die Anteilsscheine an 100‘000 Kunden vermachen. Sie selbst behalten nur ein Minimum.

Später vermacht das Ehepaar das eigene Wohnhaus in Rüschlikon mitsamt Park einer Stiftung. Am 8.Juni 1962, fünf Tage vor seinem Tod, legte Gottlieb Duttweiler selbst noch den Grundstein zum Gottlieb Duttweiler Institut (GDI), einem Zentrum für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen.

Es ist übrigens überliefert, dass Gottlieb Duttweiler auf gutes Essen und Zigarren stand, aber im Allgemeinen sehr bescheiden lebte. Er fuhr einen Fiat 500 Topolino. Und im Büro duldete er keine Verschwendung. So mussten die eingegangenen Briefumschläge wiederverwendet werden – entweder als Notizzettel oder für die interne Post.

Kulturprozent als Höhepunkt

1953 wird Gottlieb Duttweiler für seine Verdienste in die Hall of Fame der Boston Conference on Distribution aufgenommen. Zwei Jahre später erhält er Besuch von einer Delegation aus der Sowjetunion.

Doch das "soziale Kapital", für das Duttweiler stand, war nicht der Sozialismus. Ganz im Gegenteil. Er sah es als Gegenmittel an, "um sich der kommunistischen Idee der Gruppenarbeit zu widersetzen". Er sprach von einem moralischen Kapitalismus, der frei von Ausbeutung durch Geld sein sollte. Der Mensch sollte im Mittelpunkt stehen.

1957 wird in die Statuten der Migros das Kulturprozent aufgenommen. 1% des Umsatzes muss für nicht kommerzielle Zwecke eingesetzt werden: in den Bereichen Kultur, Gesellschaft, Bildung, Freizeit und Wirtschaft.

Bildung für alle

Derweil gibt es immer mehr Migros-Klubschulen. Das Angebot an Sprach-, Kultur-, Management- und Informatikkursen nimmt laufend zu.

Es handelt sich um ein inklusives Angebot (etwa mit Workshops für Personen mit Multipler Sklerose) mit modernen Unterrichtsmethoden (auch online). Und natürlich ist die Klubschule auch auf den sozialen Medien wie Facebook aktiv – "Dutti" wäre es mit Sicherheit auch.

Das ideologische Vermächtnis des Ehepaars Duttweiler ist als Manifest erhalten, den 15 Thesen von Gottlieb und Adele Duttweiler.


(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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