Die Schweizer Politik hat diesen Sommer eine harte Nuss zu knacken. Die EU verlangt den freien Markt, auch bei den Löhnen. Die Schweiz will der EU zwar gefallen, aber ihr hohes Lohnniveau um jeden Preis absichern. Es ist kompliziert! Doch es gibt einen bewährten Lösungsansatz: verhandeln!

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Drei übergeordnete Ziele hat der Schweizer Bundesrat bis zu den Wahlen 2019:

● die Unternehmenssteuer neu gestalten,

● die Rentenreform um mindestens einen wichtigen Schritt voranbringen,

● und die Zukunft der Bilateralen sichern.

Die beiden ersten Vorhaben scheiterten am Referendum. Die Allianzen der Befürworter hatten für die parlamentarische Mehrheit gereicht, nicht aber für die in der Volksabstimmung.

Rasche Siege haben ihren Preis

Politologe Manuel Fischer beschreibt in seiner Dissertation zu "Entscheidungsstrukturen in der Schweizer Politik des 21. Jahrhunderts" den Grund für Blockaden: Die Grosswetterlage bevorzugt das Gegeneinander, den politischen Wettbewerb – und vernachlässigt das Miteinander, die Konsensfindung.

Die Hälfte der wichtigen Entscheidungen wird durch Allianzen bestimmt, die mit minimalen Mehrheiten ihre Vorstellungen durchsetzen – ohne Rücksicht auf die Verlierer.

In der Schweiz hat das einen Preis, denn wer im Parlament verliert, kann eine Volksabstimmung verlangen – und hat Chancen. In jeder zweiten Referendumsabstimmung kehrt der Souverän die Mehrheitsverhältnisse an der Urne um.

Kampf um rote Linien gegenüber der EU

So könnte die Zukunft der Bilateralen an der Referendumshürde scheitern.

Zwar fand man sich beim strittigen Verfahren zur Streitschlichtung trotz breitem Graben einigermassen. Nur die SVP und ihr europaskeptischer Flügel, die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz AUNS, mögen nicht mitziehen. Für sie bleiben es pauschal "fremde Richter“, die entscheiden werden.

Doch nun gibt es beim höchst sensiblen Lohnschutz eine neue, öffentliche Baustelle. Aufgerissen hat sie ein Interview von Bundesrat Ignazio Cassis, in dem der Aussenminister spekulierte, ein Abschluss werde ohne Entgegenkommen der Schweiz beim Lohnschutz scheitern.

Das musste rote Köpfe geben!

Die provozierten Gewerkschaften drohen, sekundiert von der Spitze der sozialdemokratischen Partei (SP), mit dem Referendum.

Und alle wissen: Ein Doppelangriff auf das Rahmenabkommen in einer Volksabstimmung von links und rechts ist das sichere Aus. Das hätte Cassis wissen müssen.

Begründet hat die Linke ihren Halbausstieg mit einem Anfängerfehler des Aussenministers. Cassis habe die Tabuzone betreten, welche die Schweiz für den Schlussgang der Gespräche verbindlich festgelegt hatte.

Da kommt auch die Sozialpartnerschaft ins Spiel, denn der Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitsnehmern ist das traditionelle Muster, um Arbeitskonflikte wie Streiks zu verhindern.

Wer Veto-Player integriert, kommt durch

Der Fachjargon nennt das Verhalten der Gewerkschaften Veto-Spiel. Gemeint ist, dass sich der Einfluss eines Akteurs nicht am Stimmenanteil bei Wahlen bestimmt, sondern an der Möglichkeit, eine Mehrheit in einem Sachgeschäft zu verhindern.

Mit ihrem jetzigen Powerplay verhalten sich die Gewerkschaften sogar funktional. In der Schweiz müssen bei jeder Verfassungsänderung auch die Kantone integriert werden: sagt eine Mehrheit von ihnen Nein, ist das Vorhaben gescheitert.

Hinzu kommen je Thema die referendumsfähigen Gruppierungen unter Parteien, Sozialpartnern, Interessensgruppen und sozialen Bewegungen.

Pessimisten meinen, die Schweiz habe deshalb keine Führung. Ich sehe es anders und bleibe optimistischer!

Die Reaktionen auf das Vorgehen von Cassis waren deutlich: Die FDP will den Zugang der Unternehmen zum Binnenmarkt auch ohne EU-Beitritt sichern. Die CVP befürwortet das neue Regelwerk, wünscht sich aber Souveränitäts- und Arbeitsmarktgarantien. Selbst Arbeitgeberorganisationen, Dach- und Branchenverbände der Wirtschaft bekennen sich prinzipiell zum Lohnschutz.

Zurecht hat der Gesamtbundesrat an seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause die Initiative ergriffen und drei Sachen beschlossen: Erstens bekräftigte er die roten Linien. Zweitens verwies er Sozialpartnern und Kantonen in eine Gesprächsrunde. Und drittens betraute er den erfahrenen Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann mit dieser heiklen Aufgabe. Das Ziel über allem: den roten Faden für einen Verhandlungsabschluss zu finden.

Stilles Schaffen am runden Tisch

Es bleibt auch so kompliziert! Doch das Politsystem der Schweiz hat für genau solche Fälle eine eigentliche Verhandlungskultur entwickelt.

Diese nutzt zuerst die Vorteile runder Tische ausserhalb der Öffentlichkeit. Denn da kann man die Probleme offenlegen und nach dem grösstmöglichen gemeinsamen Nenner suchen. Massenmedien sind zu laute Arenen, wenn man einen Konsens finden will.

Zudem ist die Schweiz europapolitisch gut gefahren, wenn es zwischen SP und FDP eine funktionierende Brücke gibt. Die nationale Formel für die EU-Kooperation lautet: liberale Prinzipien verbunden mit flankierenden Massnahmen. Das garantiert Lösungen, die nicht einseitig im Links- oder Rechtsspektrum angesiedelt sind.

Schliesslich gilt es einige Regeln zu beherzigen: Interne Verhandlungen sind weder ein Moment gewerkschaftlicher Blockaden, noch ein Seminar für ordnungspolitischen Purismus. Und sie bieten auch keinen Anlass für parteipolitische Taktiken, kurz vor den Wahlen 2019.

Ohne die grösste Tugend der Schweizer Politik, den Kompromiss, droht auch das dritte Grossprojekt abzustürzen. Die Bilanz der Legislatur 2015/9 würde schlechter, nicht besser!  © swissinfo.ch

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