Der angeschlagene Airbus-Konkurrent Boeing hat in der jüngsten Zeit vor allem durch Probleme und Katastrophenmeldungen auf sich aufmerksam gemacht. Zuletzt wurde bekannt, dass Whistleblower seit Jahren vor technischen Problemen gewarnt hatten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Abstürze mit hunderten Toten, Bruchlandungen in Istanbul, Dakar, Alanya und Frankfurt und Bilder von herausgerissenen Flugzeugtüren: Die Horrornachrichten aus dem Hause Boeing reissen nicht ab. Dabei war der US-Konzern einmal das weltweite Vorbild für Passagierluftfahrt und US-amerikanische Ingenieurskunst. Die Typen 737 und 747 sind längst Ikonen der Luftfahrt.

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Lange Zeit lag der US-amerikanische Konzern in Sachen Produktion vor allen anderen Unternehmen und vor allem vor dem europäischen Konkurrenten Airbus. Doch in den vergangenen Jahren haben die Europäer aufgeholt und die Firma mit Hauptsitz in Arlington County, Virginia, überholt.

Das hat auch damit zu tun, dass der US-Konzern immer wieder durch Qualitätsprobleme auffällt – und durch fragwürdige Managemententscheidungen.

Der Absturz von Boeing: Problemfall Boeing 787

Bereits 2013 geriet Boeing in die Schlagzeilen, als die Batterien von zwei Boeing 787, genannt "Dreamliner", der japanischen Fluggesellschaften ANA und Japan Airlines in Brand gerieten. Die betroffenen japanischen Fluggesellschaften entschieden sich, alle "Dreamliner"-Modelle am Boden zu lassen und zu überprüfen.

Die US-amerikanische Luftfahrtbehörde FAA erliess im Anschluss ein Flugverbot für die betroffenen Modelle, welches erst wieder aufgehoben wurde, nachdem Boeing die Batterien in der 787 überarbeitet hatte.

Luftfahrtexperte Michael Santo von der Unternehmensberatung h&z erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass dies der Beginn der Krise von Boeing gewesen sei. Boeing habe sich mit dem Bau der 787 übernommen, wollte gleichzeitig ein modernes, komplexes Produktdesign verwenden, aber auch kostengünstig produzieren, indem die Fertigung durch externe Lieferanten erfolgte. Ab hier wurden die Probleme mit den zivilen Flugzeugen des US-Konzerns immer auffälliger.

Abstürze und Notlandungen

Am 29. Oktober 2018 stürzte eine Boeing 737 Max 8 vor der Küste von Java ab. Die indonesische Maschine war auf dem Weg nach Pangkal Pinang, einer Stadt auf der Insel Bangka. Alle 189 Personen an Bord der vollbesetzten Maschine starben. In der Folge wurde von der US-amerikanischen Bundesluftfahrtbehörde ermittelt, dass der Umgang mit fehlerhaften Daten des Anstellwinkelsensors AoA ein Problem darstelle.

Boeing hatte für die betroffenen Modelle sogenannte Maneuvering Characteristics Augmentation Systems (MCAS) installiert, diese sollten kritische Flugsituationen erkennen und korrigieren. Das geschah allerdings dergestalt, dass die Piloten, die die Flugzeuge steuern sollten, nicht darüber informiert wurden. So sollten die Umschulungen der Piloten auf die 737-Max-Modelle vereinfacht und letztlich Kosten gespart werden. Stattdessen führten die Änderungen wohl zu Abstürzen.

Als am 10. März 2019 eine Boeing 737 Max 8 der Ethiopian Airlines auf dem Weg nach Nairobi abstürzte, kamen dabei alle 157 Insassen ums Leben. Nun wurden weltweit Betriebsverbote gegen die Modelle der Max-Reihe verhängt. Nachdem Boeing zugesagt hatte, umfangreiche Umbauarbeiten an sämtlichen betroffenen Flugzeugen durchzuführen, wurden die Modelle 22 Monate später wieder zugelassen.

Pannen bei Boeing: Geplatzte Reifen und herausgerissene Kabinentür

Doch damit endeten die Probleme nicht. In der jüngsten Vergangenheit kam es zu zahlreichen Bruchlandungen und anderen gefährlichen Zwischenfällen. Erst im Mai musste ein Flugzeug des Logistik-Konzerns FedEx am Istanbuler Flughafen auf dem Rumpf landen. Schuld daran war wohl ein Problem mit dem vorderen Fahrwerk der Boeing 767.

Lediglich einen Tag später platzte der Reifen einer Boeing 737 der türkischen Billigfluglinie Corendon Airlines bei der Landung in Antalya. Zu Schaden kam niemand. Im April verlor eine Southwest-Airlines-Maschine während des Starts in Denver eine Abdeckung ihrer Triebwerke.

Zu fragwürdiger Berühmtheit hat es ein fast neues Modell der 737-Max-9-Reihe geschafft. Ein Video aus dem Januar dieses Jahres zeigt ein klaffendes Loch in der Kabine, wo zuvor noch eine Tür gewesen war. Wenige Minuten nach Start der Maschine war in knapp 4.900 Metern Flughöhe ein Teil der Aussenhülle einfach weggefallen.

Scheinbar hatten vier Teile eines Sicherungsmechanismus gefehlt, wie US-Unfallermittler anschliessend feststellten. Die US-amerikanische Bundesluftfahrtbehörde erteilte ein Flugverbot für 171 Maschinen dieses Typs.

Boeing setzt Whistleblower unter Druck

Wie sich im Nachgang der Unfälle herausstellte, wussten zahlreiche Mitarbeiter von Boeing von den Problemen mit den betroffenen Maschinen. Einer schrieb laut "New York Times" in einer E-Mail über die Sicherheitsvorkehrungen der 737 Max: "Diese Maschine ist entworfen worden von Clowns, die wiederum von Affen überwacht werden."

Mit Affen sind die Angestellten der US-amerikanischen Bundesluftfahrtbehörde FAA gemeint. Diese seien nicht in der Lage, die Daten, die Boeing ihnen zur Verfügung stellt, auszuwerten und damit ihrer Kontroll-Funktion gerecht zu werden.

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Dass die Sicherheit bei Boeing selbst nicht ausreichend beachtet wird, machten einige Whistleblower deutlich. Darunter auch ein Deutscher, wie der "Spiegel" jüngst berichtete. Martin Bickeböller versuchte zunächst intern auf Probleme aufmerksam zu machen, wurde aber – seinem Anwalt zufolge – anschliessend innerhalb des Unternehmens kaltgestellt, weshalb er an die Öffentlichkeit ging: "Die Firma hat ein strukturelles Problem mit ihrer Sicherheitskultur", erklärt Whistleblower-Anwalt Elmar Maria Giemulla gegenüber dem Magazin.

Zwei weitere Mitarbeiter von Boeing, die über Probleme in der Produktion aufmerksam machten, starben im vergangenen halben Jahr. Der Mechaniker John Barnett soll sich nach Angaben der Polizei in seinem Auto das Leben genommen haben – kurz vor einer erneuten Aussage zu den aufgedeckten Missständen. Der Qualitätsprüfer Joshua Dean erlag Anfang Mai einer schweren Infektion.

Experte: "Boeing hat die Kontrolle darüber verloren, Flugzeuge zu bauen"

Luftfahrtexperte Santo kommt zu dem Schluss, dass das Management von Boeing zu sehr auf die Rendite der Anteilseigner geschaut habe und zu wenig darauf, sichere, hochqualitative Flugzeuge herzustellen. "Man hat sich mit den letzten CEOs Manager aus der Finanz- und nicht aus der Ingenieurswelt geholt", sagt Santo.

Diese hätten dann fragwürdige Entscheidungen getroffen. Etwa die, die Boeing 737 als Max-Variante aufzurüsten, statt ein neues Flugzeug zu entwickeln. Die Boeing 737 Max wurde als Konkurrenzprodukt zum Airbus A320 Neo erdacht, sollte ebenso effizient sein. In der Praxis stellte sich heraus: Die neuen Triebwerke passten nicht unter die Flügel der 737, also brachte man diese weiter vorne an, was das Flugverhalten der Maschine änderte.

Um das wiederum auszugleichen, wurden die technischen Modifikationen vorgenommen, die später zu den bekannten Abstürzen führten – da die Piloten aus Kostengründen nicht über die Modifikationen informiert wurden, um teure Umschulungen zu vermeiden.

Alles in allem ein verheerendes Fazit, das sich für den Konzern nun auch finanziell auswirkt. Zahlreiche Maschinen mussten wegen des Flugverbots aufgrund von Sicherheitsbedenken am Boden bleiben oder wurden gar nicht erst ausgeliefert. Dazu kommen noch die Auswirkungen der Coronakrise, die den Flugverkehr weltweit zeitweise lahmlegte. Die Boeing-Aktie ist in den vergangenen fünf Jahren um fast 50 Prozent gefallen, während die des Konkurrenten Airbus in derselben Zeit um 30 Prozent zulegen konnte. Die Vertrauenskrise fasst Luftfahrtexperte Santo so zusammen: "Boeing hat die Kontrolle darüber verloren, Flugzeuge zu bauen."

Eine Existenzkrise erkennt der Luftfahrtexperte nicht. Boeing habe mit der Militär- und Raumfahrtsparte noch genug Umsatz, um die kriselnde Zivilsparte abzufangen. Viele Experten bezeichnen Boeing auch als "too big to fail": Das Unternehmen sei systemrelevant und würde zur Not auch vom Staat Unterstützung erhalten. Um nun wieder auf Kurs zu kommen, müsste der US-Riese wieder anfangen, Sicherheit und Qualität zu gewährleisten, erklärt Santo: "Boeing muss das tun, wofür es jahrzehntelang bekannt war: Gute Flugzeuge bauen."

Über den Gesprächspartner

  • Michael Santo ist Vorstand bei der Unternehmensberatung h&z. Der studierte Wirtschaftsingenieur hat langjährige Erfahrungen in der Luftfahrt und im Verteidigungssektor – sowohl bei der Luftwaffe als auch in Leitungsfunktionen in der europäischen Luftfahrtindustrie.

Verwendete Quellen

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