Kommt mehr Kindergeld wirklich den Kindern zugute? Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung ist dieser Frage nachgegangen und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Stiftung fordert nun ein Umdenken in der Politik – und hat konkrete Forderungen.

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Kinderarmut in Deutschland ist ein grosses Problem. 2017 lebten knapp 2,04 Millionen der unter 18-Jährigen in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen waren.

Ein neues Gesetz zur Unterstützung armutsgefährdeter Familien soll deren Situation bald verbessern. Dafür wollen Arbeitsminister Hubertus Heil und Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD) unter anderem die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) ausweiten.

Sachleistungen wegen eines Vorurteils

Das BuT wurde 2011 eingeführt und richtet sich an Familien, die Leistungen aus der Grundsicherung erhalten, Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen. Der Staat will damit die Anschaffung von Schulmaterialien, Ausflüge, Nachhilfe, die Musikschule oder den Sportverein unterstützen.

Allerdings ist das BuT direkt an die Bildungsausgaben gebunden. Statt Bares erhalten die Familien auf Antrag Sach- und Dienstleistungen. Damit soll einer möglichen falschen Verwendung durch die Eltern vorgebeugt werden. Der Gedanke dahinter: Eltern im unteren Einkommensbereich könnten zusätzlich zur Verfügung gestelltes Geld für eigene Bedürfnisse zweckentfremden – sich etwa Bier oder ein neues Handy kaufen.

Studie zeigt: Geld kommt Kindern zugute

Doch lässt sich dieses Vorurteil bestätigen? Eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Ergebnis: nein. Zwar sei unbestritten, dass Missbrauch von Geldleistungen stattfinde, allerdings handele es sich eher um Einzelfälle. Eine massive Zweckentfremdung konnte nach Auswertung von Daten aus dem sozio-ökonomischen Panel (SOP) nicht nachgewiesen werden. Dabei handelt es sich um eine Langzeitbefragung, die viele Parameter prüft und nicht allein auf Sozialleistungen abzielt.

Das von der Stiftung beauftrage Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) wertete dafür die Jahre 1984 bis 2016 aus. Das ZEW verglich unter anderem Familien, die ein Landeserziehungsgeld erhielten mit ähnlichen Familien, die in anderen Bundesländern keines bekamen.

Es zeigte sich, dass Eltern finanzielle Leistungen wie das Kindergeld generell sinnvoll für Bildung, Betreuung und Freizeitaktivitäten ihrer Kinder sowie für das Wohnen einsetzten. Ausserdem sparen den Analysten zufolge die Eltern eher bei sich als bei ihren Kindern.

Darüber hinaus hatte eine Erhöhung des Kindergeldes keinen Effekt auf das Erwerbsverhalten der Eltern. Auch gingen diese nicht weniger arbeiten. "Nicht nachgewiesen werden kann ein Effekt des Kindergeldes auf den Kauf von Unterhaltungselektronik oder Alkohol. Der Anteil an Rauchern steigt durch das Kindergeld nicht", schreiben die Wissenschaftler. "Lediglich beim Tabakkonsum fanden sich Anzeichen für einen Anstieg durch die beiden Geldleistungen", heisst es in dem Bericht.

Geld fliesst auch in die Miete

Dagegen geben die Familien mehr für die Miete aus – im Schnitt 14 Euro mehr für ein bisschen mehr Wohnfläche. Dank höheren Kindergeldes stieg zudem die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder in einer Kita betreut werden – je 100 Euro Kindergeld um fünf Prozentpunkte, nach dem Jahr 2000 sogar um zehn Prozentpunkte.

Auch stieg der Anteil der Kinder, die an Musikerziehung oder am Turnen teilnehmen (um acht bis elf Prozentpunkte). Zudem hat die Analyse des ZEW ergeben, dass die Eltern aufgrund des Kindergeldes nicht ihre Arbeitszeit reduzieren, die Empfänger des Erziehungsgeldes allerdings schon. Sie kauften sich mehr Zeit für ihre Kinder.

Die Bertelsmann-Stiftung weist allerdings darauf hin, dass Studien zu diesem Thema generell schwer durchzuführen seien und eventuell Daten nicht unbedingt die Realität widerspiegelten. Es könne bei heiklen Themen wie dem Alkohol- und Tabakkonsum nie ausgeschlossen werden, so die Experten, dass Befragte eine sozial erwünschte Antwort lieferten. Dennoch zeigen sich die Wissenschaftler von ihren Erkenntnissen überzeugt.

"Direkte finanzielle Leistungen für Familien sind sinnvoller als aufwendig zu beantragende Sachleistungen. Das Geld kommt den Kindern zugute und wird nicht von den Eltern für ihre eigenen Interessen ausgegeben", sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Angesichts dessen plädieren die Forscher "zumindest für eine Beweislastumkehr und einen Verzicht auf einen Generalverdacht gegenüber Eltern in einkommensarmen Haushalten." Dräger fordert daher: "Der Staat sollte den Eltern vertrauen und Entmündigung sollte nicht zur Regel werden."

Ein Problem, das die Bertelsmann-Stiftung moniert, ist der enorme Verwaltungsaufwand des BuT. Laut Stiftung würden rund 30 Prozent der Mittel für den Verwaltungsaufwand verbraucht.

Stiftung fordert Teilhabegeld

Die Stiftung fordert beim Kampf gegen Kinderarmut in Deutschland die Ablösung des bisherigen Systems. Mit einem neuen Teilhabegeld etwa sollen bisherige staatliche Massnahmen wie das Kindergeld, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets, der Kinderzuschlag und Zahlungen über die Sozialhilfe gebündelt werden. Berechtigt wären nach diesem Vorschlag alle Kinder.

Allerdings soll das Teilhabegeld mit steigendem Einkommen der Eltern gemindert werden. "Anders als das Kindergeld erreicht es so gezielt arme Kinder und Jugendliche", sagte Dräger.

"Wir brauchen endlich eine einkommensabhängige Kindergrundsicherung, die sozial gerecht, einfach und transparent ist und alle Kinder in unserem Land aus der Armut befreit", sagte Birgit Merkel vom Zukunftsforum Familie (ZFF) als Reaktion auf die Studie.

"Misstrauen gegenüber leistungsberechtigten Eltern ist unangebracht. Wir fordern nachdrücklich eine Neuberechnung und eine Erhöhung der Kinderregelsätze in der Grundsicherung. Das heisst, dass die tatsächlichen Kosten für Bildung und eine gesunde Ernährung für Kinder bei der Neuberechnung zugrunde gelegt werden müssen", fordert die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele.

Info: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Hartz-IV-Haushalten ist gestiegen. Im Dezember 2017 lebten knapp 2,04 Millionen unter 18-Jährige in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, die auf diese Unterstützung angewiesen waren. Das waren rund 35.000 oder 1,75 Prozent mehr als ein Jahr zuvor, wie aus einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht. Die Zahl steigt seit Jahren. Ende 2012 hatten noch rund 1,9 Millionen Minderjährige in Familien gelebt, die wegen Jobverlusts oder zu geringen Lohns auf Hartz IV angewiesen waren. Ziehe man Hilfsbedürftige mit ausländischem Pass ab, habe sich die Lage in den zurückliegenden Jahren allerdings verbessert, hiess es zuletzt von der Bundesagentur.


Verwendete Quellen:

  • dpa
  • AFP
  • Bertelsmann Stiftung
  • Welt.de
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