In der Coronakrise bringt die Gesellschaft den sogenannten systemrelevanten Berufen eine besondere Wertschätzung entgegen. Finanziell lohnt sich das für die meisten Angestellten jedoch nicht. Wieso sind Pfleger, Kassierer und LKW-Fahrer meist unterdurchschnittlich bezahlt? Und welche Wege aus dieser Niedriglohnfalle gibt es?
Wären Applaus, Lob und Wertschätzung eine Währung, dann hätten Pfleger, LKW-Fahrer und Polizisten derzeit ein pralles Bankkonto. Die Menschen also, die "buchstäblich den Laden am Laufen halten" – so formulierte es zuletzt Bundeskanzlerin
An gesellschaftlicher Solidarität mangelt es derzeit nicht: Seit Tagen hallt Applaus durch die Strassen zahlreicher europäischer Städte, wenn Pflegekräfte von der Arbeit nach Hause kommen. In den sozialen Medien fotografieren sich Menschen mit Plakaten, um ihre Dankbarkeit zu zeigen.
Und in der Politik werden Forderungen laut, zum Beispiel nach Sonderzahlungen, die am besten steuerfrei sein sollen. Es scheint, als wachse in der Bevölkerung das Bewusstsein für die Leistungen von Berufsgruppen, die auch ausserhalb von Krisenzeiten unabdingbar sind.
Systemrelevant, aber unterbezahlt
Doch für die Arbeitnehmer, die sich derzeit nicht ins Homeoffice retten können, schlägt sich ihre Verantwortung nur selten auf dem Bankkonto nieder. Neben Pflegern oder Kassierern werden auch viele andere systemrelevante Berufsgruppen schlecht entlohnt.
So verdient eine Erzieherin laut dem Portal gehalt.de im Schnitt 36.325 Euro brutto im Jahr, ein Supermarktmitarbeiter 28.100 Euro ein Berufskraftfahrer 29.616 und ein Arzthelfer 31.030 Euro.
Das sind allesamt Gehälter, die oftmals nur knapp über dem Mindestlohn liegen. Etwas besser bezahlt werden Berufe im öffentlichen Dienst, darunter Polizisten, Feuerwehrleute oder die Müllabfuhr. Doch in ihrer Gesamtheit, so haben es Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) berechnet, werden systemrelevante Berufe unterdurchschnittlich bezahlt.
"Während der durchschnittliche Bruttostundenlohn aller Berufe bei 19 Euro liegt, weisen systemrelevante Berufe zusammengenommen einen mittleren Stundenlohn von unter 18 Euro auf und liegen damit rund sieben Prozent unterhalb des Durchschnitts", heisst es in der Studie.
Zwar seien einzelne Berufe, darunter Mediziner oder Personen im kritischen IT-Bereich, überdurchschnittlich bezahlt. "Diese machen jedoch nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmer in systemrelevanten Berufen aus", heisst es.
In ihrer Studie haben die Forscher zahlreiche Berufe aufgelistet – am unteren Ende stehen die Verkäufer. Ihr Lohnniveau liegt knapp 70 Prozent unter dem Durchschnitt, bei Altenpflegern sind es rund 40 Prozent. Und Krankenpfleger, die derzeit wie keine andere Berufsgruppe von der Corona-Gefahr betroffen sind, verdienen rund 16 Prozent weniger.
Finanzielle Versprechungen der Politik haben sich nicht erfüllt
Ausgerechnet die Pflegeberufe: Bei kaum einer Berufsgruppe hört man in der Öffentlichkeit so viel über ihre prekären Arbeitsbedingungen. Regelmässig sitzen etwa Kranken- oder Altenpfleger in Talkshows und berichten über Überstunden oder schwache Personalschlüssel. Und gebetsmühlenartig verspricht die Politik Abhilfe in Form von Gehaltserhöhungen, finanziert aus öffentlichen Kassen. Auf den Lohnzetteln, so scheint es, macht sich das bislang kaum bemerkbar.
Gerhard Bosch, Professor an der Universität Essen, sieht dafür mehrere Gründe. "Es handelt sich bei den systemrelevanten Tätigkeiten häufig um frauentypische Berufe, die traditionell im männlichen Hauptverdienermodell schlechter bezahlt wurden."
Die Zahlen des DIW untermauern diese Aussage. Demnach sind rund 75 Prozent aller Beschäftigten in systemrelevanten Berufen Frauen. Sie arbeiten überwiegend in Pflegeberufen oder an der Supermarktkasse und haben in den letzten Jahren weniger von Gehaltssteigerungen profitiert als andere Berufsgruppen – in manchen Fällen ist ihr Gehalt sogar gesunken.
Auch in anderen Berufen kommt es zu einem eklatanten Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen. Erst diese Woche berichtete das Statistische Bundesamt, dass vergangenes Jahr der durchschnittliche Bruttostundenlohn der Frauen mit 17,72 Euro um 20 Prozent niedriger lag als der von Männern mit 22,61 Euro.
Im Jahr davor hatte der Unterschied 21 Prozent betragen. Europaweit liegt Deutschland damit auf dem vorletzten Platz. In Berufen, in denen ohnehin schlecht bezahlt wird, macht sich diese "Gender Pay Gap" aber besonders bemerkbar.
Viele Arbeitgeber scheuen Tarife
Auch der geringe Organisationsgrad in der Pflege und im Einzelhandel sorge dafür, dass Mitarbeiter ihre Systemrelevanz selten in eine angemessene Bezahlung umwandeln können, sagt Arbeitsmarktexperte Bosch.
Nur zehn Prozent der Pfleger etwa seien Mitglied in einer Gewerkschaft. "Dagegen ist die Kampfkraft der Ärzte weitaus höher, was sich auch in ihrer Bezahlung zeigt", so Bosch. Trotz vieler Überstunden, hoher körperlicher Belastung und Risiken für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter haben sich viele Altenpflegebetriebe in den letzten Jahren aus der Tarifbindung verabschiedet, um die Löhne zu senken.
Wer in der Pflege nach Tarif bezahlt wird, fängt mit 2.635 Euro brutto an und kann nach sechs Jahren 3.044 Euro verdienen. Dazu kommen Zuschläge für Nachtarbeit oder Überstunden. Bei den privaten Pflegediensten liegen die Gehälter hingegen deutlich niedriger – sie wehren sich seit Jahren gegen einen flächendeckenden Tarifvertrag.
Ähnlich sieht es im Einzelhandel aus. So verdient eine gelernte Verkäuferin in Nordrhein-Westfalen zwischen 13,90 und 17,20 Euro die Stunde, sofern sie nach Tarif arbeitet. Ist sie hingegen in einem Betrieb ohne Tarif angestellt, bekommt sie selten mehr als den Mindestlohn.
Arbeitsmarktexperte Bosch sieht deshalb nur einen Ausweg: Einen "Flächen-Tarifvertrag", der verbindliche Lohnstandards in allen Betrieben einer Branche setzt. "So ein Tarifvertrag mit hoher Bindung wäre ein Instrument zur Aufwertung von Berufsgruppen", so der Experte. In einem ersten Schritt könnten alle Arbeitnehmer, die bisher nicht nach Tarif bezahlt wurden, von einem "kräftigen Gehaltssprung" profitieren. Und im nächsten Schritt könne man dann überlegen, "ob die Tarife in bestimmten Bereichen schneller als im Durchschnitt steigen sollten".
Noch wird ein solcher Tarifvertrag von den Arbeitgeberverbänden in vielen Branchen blockiert. Um Beschäftigte in systemrelevanten Berufsgruppen besserzustellen, will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in Zukunft jedoch auf allgemeingültige Tarifverträge setzen. So ist es zumindest im Koalitionsvertrag vereinbart.
Qualifikation schützt oftmals vor schlechter Bezahlung
Auch wenn der Fokus derzeit auf den Pflegekräften liegt, sind nicht alle Berufe, die im Normalbetrieb wie in Krisensituationen unabdingbar sind, schlecht bezahlt.
So belegen die Zahlen des DIW auch, dass Mediziner im Schnitt 75 Prozent mehr als der Durchschnittsarbeitnehmer verdienen, bei den Apothekern sind es rund 58 Prozent. Und wer als Informatiker in der kritischen Infrastruktur arbeitet oder den Betrieb von Eisenbahn-, Luft- oder Schiffsverkehr garantiert, verdient etwa ein Fünftel mehr als der der Durchschnittsarbeitnehmer.
"Schlechte Bezahlung und geringe Qualifikation hängen oft eng zusammen", sagt Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann von der FOM Hochschule Mannheim. Wer Regale auffülle, bei der Ernte helfe oder Lebensmittel per Rad und Lieferwagen ausliefere, habe eine wichtige und systemrelevante Aufgabe. "Doch solche Tätigkeiten benötigen nur eine geringe Qualifikation und werden deshalb auch gering entlohnt", sagt Spermann.
Profitieren dürfte von der aktuellen Diskussion vor allem der Gesundheitssektor. Kaum eine Partei wagt es, sich gegen weitreichende Investitionen in der Pflege zu stemmen. Die bayerische Landesregierung will allen Pflegekräften eine steuerfreie Bonuszahlung von 500 Euro zukommen lassen, profitieren könnten davon rund 252.000 Angestellte.
Und auch die Berliner Landesregierung will sich bei den Angestellten in den landeseigenen Krankenhäusern mit einem Extra von 150 Euro bedanken. Ob es danach noch für die unzähligen anderen Berufe reicht, ohne die ein Leben mit und ohne Krise unvorstellbar wäre, ist nicht ausgemacht.
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