Statt neue Krisen zu verhindern, wie dies die Initianten behaupten, würde die Umsetzung der Vollgeld-Initiative nur Unsicherheit verursachen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Banken gefährden, sagt Philippe Bacchetta. Laut dem Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Lausanne sind die Exzesse des Finanzsektors hauptsächlich auf Inkompetenz und mangelnde Vorsicht zurückzuführen.
swissinfo.ch: Laut den Befürwortern der Initiative fördert die Schaffung von Geld durch die Geschäftsbanken die Spekulation und Finanzblasen. Entspricht das nicht der Realität?
Philippe Bacchetta: Nein, überhaupt nicht. Theoretisch könnte man sich vorstellen, dass es eine Beziehung gibt zwischen der Schaffung von Geld und der Spekulation. Doch in Realität beweist keine einzige seriöse Studie einen solchen Zusammenhang. Zudem legen die Befürworter der Initiative keine Beweise dafür vor.
swissinfo.ch: Der Finanzsektor wurde in den letzten 20 Jahren von zahlreichen Krisen durchgeschüttelt. Ist die Vollgeld-Initiative nicht eine gute Lösung, um Exzesse im Bankensektor zu verhindern?
P.B.: Absolut nicht. Die Analyse der jüngsten Krisen zeigt, dass das Geld, um das es bei der Initiative geht (d.h., Girokonten), keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise hat. Die Exzesse im Bankensektor sind oft auf mangelnde Vorsicht bei der Gewährung von Darlehen oder beim Kauf von Vermögenswerten zurückzuführen, und manchmal auf Inkompetenz.
Solche Verhaltensweisen wären von der Initiative nicht betroffen. Ich möchte daran erinnern, dass die Sichteinlagen nur etwa 20% der Verbindlichkeiten der Banken ausmachen und dass in Zeiten vor Krisen die anderen Arten von Verbindlichkeiten jeweils zugenommen haben.
swissinfo.ch: Erachten Sie die Regeln, die in den letzten Jahren in der Schweiz zur Stärkung des Finanzplatzes eingeführt wurden, als genügend? Beispielsweise, was das Eigenkapital der Grossbanken betrifft?
P.B.: Ich halte die Erhöhung der Eigenmittel der Banken für wünschenswert. Es wäre jedoch vorzuziehen, dass diese Erhöhung global erfolgt, damit die Schweizer Banken ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht verlieren.
swissinfo.ch: Wäre es nicht sicherer, die Schweizerische Nationalbank (SNB) allein mit der Schaffung von Geld zu betrauen, statt diese Tätigkeit auch in Händen der Geschäftsbanken zu lassen, die rein gewinnorientiert und nicht im öffentlichen Interesse arbeiten?
P.B.: Der Ausdruck "Geld schaffen" ist irreführend. Im Mittelalter schuf der "Prinz" Münzen, und in der Folge begannen die Zentralbanken, Geldscheine herauszugeben. Doch die Vollgeld-Initiative betrifft weder Münzen noch Noten, sondern Bankkonten.
Weil es aber verschiedene Arten von Bankkonten gibt, gibt es auch verschiedene Arten der Bemessung von Geld. Die SNB kontrolliert derzeit das "Zentralbankgeld", auch "Geldbasis" genannt, das aus den Einlagen der Banken bei der Nationalbank besteht.
Im Gegensatz verlangt die Initiative, dass die SNB die Girokonten (oder Sichtgeldkonten) der Kunden bei den Geschäftsbanken direkt kontrolliert (Sparkonten wären davon ausgenommen).
Die Notwendigkeit, dass die SNB diese Sichtgeldkonten überwacht, würde jedoch die Durchführung der Geldpolitik erschweren. Es würde auch den Prozess der Kreditvergabe durch die Geschäftsbanken erschweren und wäre daher schädlich für die Unternehmen.
swissinfo.ch: Der Bankensektor kann Geld herausgeben. Verfügt er damit nicht über einen ungerechten Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Wirtschaftssektoren?
P.B.: Nein, auch hier ist die Terminologie irreführend. Wenn der Bankensektor "Geld herausgibt", bedeutet dies, dass er bei einem Kreditgeschäft Sichteinlagen gutschreiben kann. Das ist kein Wettbewerbsvorteil, sondern lediglich eine mit der Kreditvergabe verbundene Aktion. Diese Kredittätigkeit ist spezifisch für Banken, und es ist deshalb normal, dass die anderen Sektoren nicht zu dieser Geldschöpfung beitragen.
Man sollte auch die Tatsache betonen, dass die Möglichkeit für die Banken, den Betrag der Sichtgeld-Einlagen zu erhöhen, keine Vermögensbildung darstellt, denn sie impliziert auch eine Schuld für die Banken. Die Haupteinnahmequelle ist die Zinsdifferenz zwischen Einlagen und Krediten.
swissinfo.ch: Würde ein "Vollgeld-System" die Glaubwürdigkeit und Stabilität des Finanzplatzes Schweiz verstärken, wie es sich die die Befürworter der Initiative erhoffen?
P.B.: Nein, im Gegenteil. Gegenwärtig sind die Girokonten eine sichere Einnahmequelle für die Banken. Mit dem "Vollgeld-System" müssten sich die Banken aus weniger stabilen Finanzierungsquellen finanzieren und damit die Instabilität erhöhen.
Zudem sind zahlreiche Aspekte der Umsetzung der Initiative nicht klar. Ihre Umsetzung würde mehr Unsicherheit schaffen, was den Finanzplatz Schweiz schwächen würde.
swissinfo.ch: Laut der Initiative könnte die SNB das neu geschaffene Geld der Eidgenossenschaft und den Kantonen oder direkt den Bürgern geben, und das ohne Schulden zu machen. Milliarden von Franken, die gegenwärtig nicht benutzt werden, würden so der Allgemeinheit zu Gute kommen. Wäre nicht das allein schon ein Grund, die Initiative anzunehmen?
P.B.: Die Vorstellung, dass das Geld in der Bilanz der SNB keine Schuld ist, ist ein Trugschluss, sowohl buchhalterisch als auch wirtschaftlich!
Das würde bedeuten, dass die SNB ihre Vermögenswerte jederzeit veräussern und den Erlös ausschütten kann. Dieser demagogische Vorschlag ist sehr gefährlich und würde die Glaubwürdigkeit der SNB und des Schweizer Wirtschaftssystems in Frage stellen.
Ich weise darauf hin, dass diese Mittelverteilung der SNB nichts mit der Grundidee der Vollgeld-Initiative zu tun hat und auch im aktuellen System möglich wäre. Aber es gibt sehr gute Gründe, dies weder im gegenwärtigen System noch in jedem anderen Währungssystem zu tun.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
Eine Gegenmeinung:
"Kosmetische Reformen können eine weitere Finanzkrise nicht verhindern", sagt Sergio Rossi, Professor für Makroökonomie an der Universität Freiburg und argumentiert für das Vollgeld-System. Hier geht es zum Interview.
© swissinfo.ch
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