Am 6. Juni 1944 landen alliierte Truppen in der Normandie. 80 Jahre später reisen Veteranen wieder dorthin. Manche haben noch immer Fragen - auch an Deutschland.
Als Stan Ford damals die Schiffe ablegen sah – es waren Hunderte – ahnte er noch nicht, was auf ihn zukommen würde. Der Kriegseinsatz sei für ihn das grosse Unbekannte gewesen. "Es war etwas, was man akzeptieren musste, so wie es Tausende andere Männer taten", erzählt der 99-Jährige, der die Alliierten bei der grössten Landeoperation des Zweiten Weltkriegs unterstützte, bei einem Veteranentreffen in London.
Zehntausende Mann stachen damals am sogenannten D-Day in See, um an der nordfranzösischen Küste gegen die dort positionierten deutschen Truppen zu kämpfen. Fragt man Ford, ob er damals keine Angst hatte, wirkt er beinahe überrascht. "Wenn Ihr Land in Gefahr wäre", antwortet er, "würden Sie anders denken."
Wissen: Was geschah am D-Day?
- Der sogenannte D-Day markierte den Start der Befreiung Westeuropas von der Nazi-Herrschaft: Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten an der nordfranzösischen Küste in der Normandie. Etwa 3.100 Landungsboote mit mehr als 150.000 Soldaten machten sich auf den Weg nach Nordfrankreich. Der D-Day steht aber auch für ein schreckliches Blutvergiessen, Zehntausende Tote und Verwundete.
- Zur Streitmacht der Alliierten am D-Day, der grössten Landungsoperation im Zweiten Weltkrieg, gehörten vor allem US-Amerikaner, Briten, Kanadier, Polen und Franzosen. Die Deutschen hatten im betroffenen Küstenabschnitt nur etwa 50.000 Infanteristen und wenige Flugzeuge zur Verfügung. Weiter nördlich, wo das Landungsunternehmen irrtümlich erwartet wurde, war der Grossteil der Divisionen des deutschen Westheeres stationiert. Im D-Day-Bereich waren die Strände nur lückenhaft gesichert. Die Alliierten gingen in den Morgenstunden an fünf Küstenabschnitten mit den Decknamen Utah, Omaha, Gold, Juno und Sword östlich von Cherbourg an Land. Erst nach sechs Tagen gelang es Hitlers Gegnern, die Brückenköpfe zu einer Front von etwa 100 Kilometern Länge zu verbinden.
- Am Abend des D-Day registrierten die Alliierten Verluste von rund 12.000 Mann, darunter etwa 4.400 Tote. Die Zahl der deutschen Verwundeten, Vermissten und Gefallenen wird auf 4.000 bis 9.000 Mann geschätzt. Im weiteren Verlauf der "Operation Overlord" sollen bis zur Eroberung von Paris im August 200.000 Deutsche und 70.000 Verbündete ums Leben gekommen sein. In der verwüsteten Normandie starben bis zu 20.000 Zivilisten.
"Warum habe ich überlebt?"
Der Brite diente als 19-Jähriger auf dem Begleitschiff HMS Fratton, das kurz nach dem D-Day ablegte und mehrere Wochen später von einem Torpedo getroffen wurde. Es sank in Minuten. "Wir haben 31 Mann der Crew verloren. Viele von ihnen waren meine Freunde", erzählt Ford. Und obwohl es ziemlich laut im Raum ist, entsteht ein Moment der Stille.
Wenn Ford nun zu den grossen Gedenkfeiern in die Normandie reist, 80 Jahre später, dann will er dort etwas erledigen. An einem Mahnmal will er den Namen eines Freundes berühren. Ford erzählt von seinem katholischen Glauben und dass er sich bis heute eine Frage stellt. "Warum habe ich überlebt", fragt Ford, "wenn es all die anderen nicht getan haben?"
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Veteran hatte damals klares Ziel vor Augen
Die Alliierten hatten die Landung monatelang vorbereitet. In Südengland wurden Soldaten, Fahrzeuge, Equipment zusammengezogen. Das britische Verteidigungsministerium schreibt, am D-Day seien rund 130.000 Mann an Frankreichs Küste angelandet. In einem Monat seien mehr als eine Million Mann in die Normandie gebracht worden. Die Zahlen dazu variieren.
Einer von ihnen war Mervyn Kersh. Die Landung in Frankreich sei damals sehr bewegend gewesen, aber auch sehr befriedigend. Man sei der Zerstörung Deutschlands einen Schritt nähergekommen. "Das war mein Ziel. Ich habe mich darauf gefreut", erzählt Kersh, der später in der Nähe des Konzentrationslagers Bergen-Belsen stationiert war. Er gehört zu den wenigen D-Day-Veteranen, die heute noch am Leben sind.
Angehörige reisen zum Gedenken an
An den Einsatz damals, der den Auftakt der Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Deutschland vom Westen her markierte, erinnern zahlreiche Gedenkfeiern. Der Höhepunkt ist ein internationales Gedenken am 6. Juni, zu dem neben US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und weitere Staatschefs, Grossbritanniens König Charles III. und das niederländische Königshaus erwartet werden.
Der D-Day treibt heute auch die Kinder und Enkelkinder der inzwischen wenigen noch lebenden Veteranen um, die nach der Heimkehr über das Kriegsgeschehen oft ein Leben lang geschwiegen haben. Als am Omaha Beach in der Normandie Amerikaner und Franzosen vor wenigen Tagen ein neues Denkmal für die eingesetzten Elitetruppen der US-Marine einweihen, sind etliche Angehörige eigens aus den USA angereist.
Soldaten schwiegen ein Leben lang über ihren Einsatz
"Vater hat nie darüber geredet, er hat nur erzählt, dass er Elektriker auf einem Schiff gewesen ist", sagt Steve Mc Mahon, als er in der Normandie vor dem gerade enthüllten Denkmal steht. Erst nach seinem Tod habe seine Mutter einen Umschlag mit Zeitungsartikeln gefunden, aus denen der Einsatz des Vaters auf einem Landungsschiff hervorging, mit dem er rund 50 Mal über den Ärmelkanal gefahren ist. Zum ersten Mal ist der hochgewachsene Amerikaner, der von 1979 bis 1981 Trainer des Basketball-Bundesligisten USC Bayreuth war, auf den Spuren des Vaters in die Normandie gefahren. "Wir wollten immer hierher kommen."
Und dann, als habe das Schicksal es arrangiert, ist er seinem Vater plötzlich sehr nahe. Auf einem grossen in den Granit des Denkmals eingravierten Foto der Landungsoperation entdeckt Mc Mahon anhand der Registrierungsnummer das Boot, auf dem sein Vater im Einsatz war. Gesichter sind auf dem Schwarz-Weiss-Bild nicht zu erkennen, nur die dunklen Umrisse der Soldaten. "Einer der Köpfe dort, das muss er sein", meint der Amerikaner bewegt, als er mit der Hand über den Stein streicht.
Späte Anerkennung für US-Elitesoldaten
Vor einem anderen Teil des Denkmals steht Betsy Hacke und macht Fotos von dem grossen Schriftzug, der auf Englisch und Französisch den Einsatz der Scouts and Raiders hervorhebt, der Vorgänger der heutigen Navy Seals. Sie strahlt und ist bewegt. Für sie ist es, wie sie erklärt, eine späte, aber ausdrückliche Anerkennung für die US-Spezialeinheit, in der ihr Vater im Einsatz war. "Mein Vater redete nie über den Krieg", sagt auch sie. "Er war in der Navy", mehr habe er nicht preisgegeben - bis er irgendwann ein anderes Mitglied seiner Eliteeinheit wiedertraf, und bis zu seinem Tod vor über 20 Jahren regelmässige Treffen von D-Day-Veteranen in den USA organisierte.
"Das ist heute sehr emotional", sagt Peter Garvy, der aus dem Grossraum Chicago angereist ist, nach der Enthüllung des Denkmals. "Mein Vater war auf dem Schlachtschiff USS Nevada eingesetzt", erzählt er. Mit ihren mächtigen Kanonen unterstützte die Nevada damals die Landungsoperation der Alliierten. "Er hat über seinen Einsatz nicht geredet", sagt auch Garvy, der dem Vorstand des Navy-Seal-Museums in den USA angehört, das die Errichtung des Denkmals in Frankreich mit anschob.
"Spricht Ihre Familie jemals darüber?"
In London stellt Veteran Mervyn Kersh im Interview auch Gegenfragen. Wie man in Deutschland heute auf den Krieg schaue, ob es ein Schuldgefühl gebe. "Spricht Ihre Familie jemals darüber?" Diese Fragen interessieren ihn. Reporterinnen und Reporter fragen im Gegenzug, wie die Männer aktuell auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine schauen. Er schaue auf Russland heute wie damals auf Deutschland 1935, antwortet Kersh. Seiner Meinung nach muss der Westen militärisch Stärke zeigen. Kersh erzählt, wie er früher oft verprügelt worden sei und dann das Boxen gelernt habe. Dann habe sich keiner mehr getraut.
Nach seinem Einsatz in der Normandie und in Deutschland sollte er nach Japan geschickt werden. "Als die Japaner hörten, dass ich komme, haben sie kapituliert", scherzt Kersh. Bis heute habe er noch das Papier, auf dem stehe, dass er jederzeit als Reserve einberufen werden könne. "Ich warte immer noch darauf, in die Ukraine zu gehen", sagt Kersh, der mittlerweile 99 Jahre alt ist. "Ich gucke jeden Tag in die Post, aber habe noch keinen Einberufungsbescheid bekommen." Es sei Zeit, dass sie sich mal bei ihm meldeten. (Julia Kilian und Michael Evers, dpa/af)
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