Keine anderen Länder der Welt haben so starke direktdemokratische Volksrechte wie die USA und die Schweiz. Doch es gibt einen ganz grossen Unterschied: Auf nationaler Ebene können die Bürgerinnen und Bürger der USA bislang nicht mitbestimmen. Prägend für den Föderalismus der modernen Schweiz waren nicht George Washington & Co., sondern die Ureinwohner der Irokesen.
"Ein Verfassungskonvent für New York", "Obamacare für alle in Maine", "Günstige Heilmittel für die Bürger von Ohio": Das sind drei von insgesamt 27 Vorlagen, über welche die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von neun Bundesstaaten der USA am 7. November 2017 abstimmen werden.
Das hat System: sämtliche Verfassungsänderungen müssen in den US-Bundesstaaten direkt vom Stimmvolk an der Urne verabschiedet werden. Einzige Ausnahme ist Delaware. Zudem kennt gut die Hälfte der fünfzig Gliedstaaten die Instrumente der Volksinitiative und des Volksreferendums.
Und auch auf der lokalen Ebene sind die direktdemokratischen Volksrechte stark verankert: "Die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger ist ein zentrales Element unserer Demokratie", sagt Dane Waters, Leiter des Forschungszentrums für Direkte Demokratie an der University of Southern California. "Wichtige Abstimmungsthemen sind derzeit das Gesundheitswesen, die Marihuana-Liberalisierung und der Tierschutz", so Waters.
Zwillinge, von Geburt an getrennt
Tatsächlich prägt die moderne direkte Demokratie, gekennzeichnet durch Sachabstimmungen über Initiativen und Referenden, den politischen Alltag in den USA wie kaum in einem anderen Land der Welt – abgesehen von der Schweiz.
Das ist kein Zufall, haben sich doch die beiden ungleichen Bundesstaaten in der Vergangenheit gegenseitig immer wieder stark beeinflusst. "Wir sind wie Zwillinge, die von Geburt an in verschiedenen Familien aufgewachsen sind, aber in engem Kontakt stehen", sagt der Schweizer Politikwissenschaftler Andreas Gross.
Ich treffe ihn im Washingtoner Wilson-Zentrum an der Pennsylvania Avenue, nur einen Steinwurf vom Weissen Haus entfernt. Das Zentrum ist Woodrow Wilson gewidmet, dem Präsidenten der USA von 1913 bis 1921.
Gross weilt studienhalber dort. Das Thema, zu dem der Demokratieexperte dank Fördermitteln des Zürcher Europainstituts ein Buch schreiben will, sind exakt die gegenseitigen Inspirationen und Ideentransfers der USA und der Schweiz.
"Wir können beide sehr viel voneinander lernen", sagt der frühere Nationalrat aus Zürich. "Hier in der Bibliothek des früheren Präsidenten und Anhängers der direktdemokratischen Volksrechte habe ich Zugang zu allen Schriften und Büchern, die es zu meinem Forschungsthema gibt."
Die Irokesen als Ideengeber
Historisch betrachtet hat die Schweiz von den USA den Föderalismus abgekupfert, währenddessen die USA von der Schweiz den Anstoss zur direkten Demokratie aufnahmen. "Dabei gelten aber weder die Amerikaner noch die Schweizer als Erfinder dieser wichtigen Elemente unserer heutigen politischen Systeme", sagt Andreas Gross.
Heute gilt es als erwiesen, dass sich Benjamin Franklin – einer der späteren Gründerväter der USA – bei der Ausarbeitung der ersten amerikanischen, föderalistischen Verfassung von der Indianer-Föderation der Irokesen inspirieren liess.
"Wenn sich sechs verschiedene Stämme wilder Indianer auf einen solchen Bund einigen konnten, sollte es doch kein Ding der Unmöglichkeit sein, einen solchen Bundesstaat für zehn oder mehr englische Kolonien zu bilden", erklärte Franklin im Jahre 1754 am Albany-Kongress. 33 Jahre später schaffte er es am entscheidenden Verfassungskonvent in Philadelphia, die neuen Vereinigten Staaten auf den Föderalismus einzuschwören.
Dieser hat bis heute Bestand: Im Senat (Kleine Kammer) ist jeder Bundesstaat, unabhängig von der Einwohnerzahl, mit zwei Abgeordneten vertreten. Im Repräsentantenhaus, der Grossen Kammer, sind die Gliedstaaten jedoch proportional zur Einwohnerzahl vertreten. Genau dieses Modell wurde 1848 auch in der ersten Schweizer Bundesverfassung verankert. Nur heisst der Senat in der Schweiz Ständerat, die Grosse Kammer Nationalrat.
Frankreichs Demokratie-Export
Anders verlief der Ideentransfer bei den direktdemokratischen Volksrechten. Hier gilt der französische Universalgelehrte Marquis de Condorcet als Erfinder. Am französischen Verfassungskonvent von 1792 erklärte Condorcet, dass "die Republik aktive und sich persönlich engagierende Bürger zur Voraussetzung" habe.
Deshalb schlug er das Recht der Volksinitiative vor. Dieses überlebte zwar in Frankreich die nachfolgenden Wirren ebenso wenig wie Condorcet selbst – bis heute kennt die französische Verfassung das stärkste aller Volksrechte nicht.
Doch im Nachbarland Schweiz fiel dieser demokratische Impuls Condorcets auf fruchtbareren Boden. Zunächst wurde die Volksinitiative gemeinsam mit dem Referendum (Vetorecht des Volkes) in fast allen Kantonen eingeführt, bevor sie schliesslich 1891 auch den Weg in die Bundesverfassung fand.
Demokratie-Bildungsreise in die Schweiz
Diese friedlich-evolutionären (im Gegensatz zu den oft gewalttätigen revolutionären) Entwicklungen der modernen Demokratie interessierten Ende des 19. Jahrhunderts auch amerikanische Journalisten. Sie brachen zu einer Demokratie-Studienreise in die Schweiz auf.
Der Reporter J. W. Sullivan beschrieb das "Swiss Model" (Schweizer Modell) in seinen Zeitungsartikeln und Büchern derart packend, dass das Thema direkte Demokratie schon bald die politische Reformdebatte in den USA prägte: "Wir wollen eine Regierung durch Diskussion ('Government by discussion')", schrieb der konservative Politiker Nathan Cree 1892 und forderte die Einführung von direktdemokratischen Volksrechten auf der nationalen Ebene der USA.
US-schweizerische Runde in Washington
Darauf warten die über 320 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner allerdings bis heute. "Dabei würde die Möglichkeit der direkten Mitsprache auf der föderalen Ebene eine Protest-Wahl wie jene von Donald Trump überflüssig machen", ist Dane Waters überzeugt.
Gemeinsam mit Andreas Gross nahm Waters Mitte Oktober 2017 in der Schweizer Botschaft in Washington an einer öffentlichen Debatte teil. "Direct and Participatory Democracy: Can it Really Change America?" lautete deren Titel ("Direkte und partizipative Demokratie: Kann sie die USA wirklich verändern?").
Der Schweizer Botschafter Martin Dahinden erklärte, dass "die Schweizerische direkte Demokratie kein Exportprodukt" sei, aber sehr wohl als "Inspiration" dienen könne.
Zahlreiche Vertreter aus Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft, die an dieser amerikanisch-schweizerischen Demokratierunde teilnahmen, nahmen diesen Ball auf. Sie hoben insbesondere die bedeutend grosszügigeren zeitlichen Fristen bei Volksinitiativen in der Schweiz hervor. Von der Lancierung einer Initiative bis zur Abstimmung vergehen in der Schweiz oft vier bis acht Jahre.
In den USA dagegen dauert es oft weniger als ein Jahr, bis das Stimmvolk an der Urne darüber befindet. "Das hemmt das Zusammenspiel von Regierung, Parlament und Volk", sagte Julia Fromholz, eine US-Menschenrechtsexpertin.
Transparente Finanzierung in den USA
Zu den starken Seiten der amerikanischen Praxis der Volksrechte, das wurde in Washington ebenso deutlich, gehört umgekehrt die hohe Transparenz beim Einsatz von Geld in einer Abstimmungskampagne. "Wir müssen alle unsere Geldgeber offenlegen", betonte Wayne Pacelle. Der Präsident der nationalen Tierschutzorganisation Human Society ging in den letzten Jahren in über fünfzig Volksabstimmungen – und gewann die meisten.
Der erfolgreiche Tierschützer outete sich in Washington als klarer Befürworter der Einführung von direktdemokratischen Volksrechten. "Ich glaube, unser Land ist reif für einen solchen Schritt", so Pacelle.
Nur: Der Weg dorthin ist weit. Sehr weit. Denn im Unterschied zur Schweiz muss in den USA eine Verfassungsänderung von einer Zweidrittels-Mehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus eingeleitet werden. Und als zweite Hürde müssen mindestens 38 der 50 Gliedstaaten die Änderung ratifizieren.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. © swissinfo.ch
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