Das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank, das während des Zweiten Weltkriegs in seinem Amsterdamer Versteck ein Tagebuch führte, ist auf tragische Weise mit der Schweiz verknüpft. Eine Ausstellung in Basel zeigt, wie ihr Vater Otto Frank von der Schweiz aus dem Tagebuch zu Weltruhm verhalf.
Als der Untermieter der Familie Frank am 6. Juli 1942 die Amsterdamer Wohnung betrat, fand er eine grosse Unordnung und ein Briefchen vor, in dem die Franks darum baten, dass jemand für die Katze sorgt. Der Mann schloss aus der Notiz, dass die Franks in die Schweiz geflohen seien. Das dachten auch alle Freunde und Bekannte der Franks, als die Familie von einem Tag auf den anderen verschwand.
Die Schweiz war damals der letzte Fleck in Mitteleuropa, der nicht von Nazideutschland besetzt war. Deshalb versuchten viele Juden, in die Schweiz zu fliehen. Ein Teil von Annes Verwandten war bereits vor Jahren von Deutschland in die Schweiz gezogen. Auch für
Nur: Die Familie Frank war nicht in die Schweiz geflohen. Sie war untergetaucht und versteckte sich in einem Amsterdamer Hinterhaus. Das war bereits das zweite Mal, dass die Schweiz fast, aber nur fast, die Rettung für Anne Frank hätte sein können, wie wir gleich sehen werden.
Auf das falsche Land gesetzt
Anne Frank wurde 1929 in Frankfurt am Main geboren. Als Nationalsozialisten 1933 den jüdischen Bürgermeister von Frankfurt gewaltsam zum Rücktritt zwangen und durch einen Nazi ersetzten, realisierten die Frankfurter Juden, dass sie in Nazi-Deutschland keine Zukunft hatten.
Dies im Unterschied zu Juden, die anderswo in Deutschland lebten und in ihrer "Bubble" die Gefahr unterschätzten. "Die Berliner Juden beispielsweise lebten in einer Stadt, die für ihre linke, subversive Kultur bekannt war – ich denke an das Berlin des politischen Kabaretts. Vielleicht zögerten deshalb viele mit einer Emigration", sagt Naomi Lubrich, Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz, das derzeit eine Ausstellung zeigt zum Thema "Das Tagebuch. Wie Otto Frank Annes Stimme aus Basel in die Welt brachte" (siehe Box).
Auch Otto Frank und seine Verwandten überlegten, wo sie ein neues Leben beginnen könnten. Ottos Mutter und Schwester sowie deren Mann und Söhne emigrierten in die Schweiz. Ein Bruder wanderte nach England aus, ein anderer nach Paris. Otto Frank setzte aufs falsche Land, nämlich auf Holland, wo er in Amsterdam für die Firma Opekta eine Vertretung aufbauen konnte. "1933 konnte man noch nicht ahnen, ob es in der Schweiz oder in Holland sicherer wäre", erklärt Lubrich. "Der Krieg war noch gar nicht ausgebrochen. Es war ein bisschen wie ein Roulette", so Lubrich zur Wahl der neuen Heimat. "Hätte Otto Frank gewusst, dass die Schweiz sicherer war, hätte er bestimmt versucht, hier Fuss zu fassen."
Auch die Schweiz war ein Feld dieses Roulettes mit unsicherem Ausgang. "Die Basler haben sich auch während des Krieges nie richtig sicher gefühlt, denn Deutschland war sehr nah", so Lubrich. Als Deutschland die Niederlande überfielen, erwog Otto Frank denn auch keine Flucht in die Schweiz, sondern bemühte sich fieberhaft für ein Ausreisevisum in die USA oder Kuba – was jedoch scheiterte.
Zusammen mit Arbeitskollegen bereitete Otto Frank deshalb im Hinterhaus seines Geschäftshauses ein Versteck vor, wo die Franks mit einer befreundeten Familie 1942 untertauchten. In den zwei Jahren, die sie zu acht in den vier Zimmern verbrachten, führte Anne Frank Tagebuch. Im August 1944 entdeckte die Gestapo das Versteck – ob durch Verrat oder Zufall ist bis heute nicht geklärt.
Die Untergetauchten wurden nach Auschwitz deportiert. Anne und ihre Schwester Margot starben in Bergen-Belsen an Typhus, andere der Untergetauchten wurden vergast, aus einem fahrenden Zug gestossen oder starben an Hunger und Erschöpfung. Einzig Otto Frank überlebte. Seine Sekretärin, die den Untergetauchten im Versteck geholfen hatte, übergab ihm bei seiner Rückkehr nach Amsterdam Annes Tagebuch, das sie nach der Verhaftung aus dem Versteck geholt und bei sich zu Hause aufbewahrt hatte.
Annes Vater findet neue Heimat in der Schweiz
Als die Verwandtschaft in der Schweiz erfuhr, dass Otto Frank seine Frau und beide Töchter in den Konzentrationslagern verloren hatte, schrieb die Mutter Alice Frank 1945: "Wir hatten ja keine Ahnung, welch schreckliches Schicksal Euch getroffen hat." Die Schweizer Verwandtschaft war unversehrt.
Nach dem Krieg zog Otto zu seiner Schwester nach Basel, wo er während zehn Jahren in ihrem Haus unter dem Dach wohnte. Er sagte 1979 in einem Interview mit dem Basler Magazin: "Ich kann heute nicht mehr in Holland leben. Jedes Mal, wenn ich nach Holland reise, überfällt mich die Erinnerung, und das halte ich heute nicht mehr aus." Er sei in die Schweiz gekommen, weil hier seine Mutter und Geschwister lebten. "Ich fand hier auch die nötige innere Ruhe, all die Arbeit, die mit dem Buch verbunden war, seit 1947, zu verrichten."
Später zog Otto Frank mit seiner neuen Frau nach Birsfelden bei Basel, von wo aus er Leserbriefe aus der ganzen Welt beantwortete. Er ist auf dem örtlichen Friedhof begraben. In Birsfelden ist 2009 ein Anne-Frank-Platz eingeweiht worden, nachdem Basel sich geweigert hatte, Anne Frank auf entsprechende Weise zu ehren.
Schweizer Fonds verkracht sich mit Amsterdamer Stiftung
Doch das ist noch nicht das Ende der Geschichte von Anne Frank und der Schweiz. Es gibt eine hässliche Fortsetzung in die Gegenwart: Die Geschichte der Gerichtsprozesse. Aber der Reihe nach.
1957 gründete ein Komitee holländischer Bürger in Amsterdam eine Stiftung, das Anne-Frank-Haus, mit dem Ziel, das Hinterhaus zu erhalten und für Publikum zu öffnen. Otto Frank gründete 1963 in Basel den Anne Frank Fonds (siehe Box), den er als Universalerbin einsetzte und der folglich sämtliche Rechte am Werk Anne Franks besitzt.
Zunächst bestand zwischen dem Schweizer Fonds und der holländischen Stiftung eine Partnerschaft, respektive der Fonds unterstützte Projekte des Anne Frank Hauses. 2007 übertrug der Basler Fonds die Schweizer Familienarchive als langfristige Leihgabe an das Anne-Frank-Haus. Doch 2011 forderte der Basler Fonds eine Rückgabe; und dann entbrannte auch noch ein Streit um die Urheberrechte: Das Anne-Frank-Haus wollte zusammen mit dem Institut für niederländische Geschichte die Manuskripte Anne Franks textuell und historisch untersuchen. Der Anne Frank Fonds in Basel sah darin eine Urheberrechtsverletzung und klagte gegen die Holländer.
Die beiden Stiftungen haben sich richtiggehend verkracht. "Die beiden Organisationen arbeiteten viele Jahre lang zusammen, um die von Otto Frank angestrebten Ziele zu erreichen", sagt Maatje Mostart vom Anne-Frank-Haus. "Vor einigen Jahren beschloss der Anne Frank Fonds, diese Partnerschaft zu beenden."
Der Anne Frank Fonds will sich nicht zu anderen Institutionen äussern.
Anne Frank und die Schweiz – leider hat diese Geschichte in keiner Weise ein glückliches Ende.
Ausstellung "Wie Otto Frank Annes Stimme aus Basel in die Welt brachte"
Noch bis am 13. Januar 2019 zeigt das Jüdische Museum der Schweiz in Basel eine Ausstellung "Das Tagebuch. Wie Otto Frank Annes Stimme aus Basel in die Welt brachte". Die Ausstellung erzählt die Geschichte der Familie Frank und des Tagebuches, das aus Basel in die Welt gelangte. © swissinfo.ch
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.