Die Geschichte von Neutral-Moresnet ist so schräg wie einzigartig: Das Gebiet an der deutschen Grenze zu Belgien existierte fast ein Jahrhundert lang und war Fluchtort für Wehrdienstverweigerer und ein Traum für alle Schmuggler. Bis der Erste Weltkrieg dem Ganzen ein unerwartetes Ende setzte.
Alles begann im Jahr 1815 mit dem grossen Interesse zweier Königreiche an einem Vorkommen von Zinkerz, auch Galmei genannt. Das Königreich Preussen und das Königreich der Vereinigten Niederlande stritten um die kleine Ortschaft Kelmis im heutigen Belgien. Galmei lag im angrenzenden Altenberg im Boden und war ein wichtiger Rohstoff, um Dinge aus Zink oder Messing herzustellen: Badewannen, Dachrinnen oder Geländer.
Napoleon Bonaparte etwa soll so eine Badewanne besessen haben, sogar als mobile beheizbare Variante, und er war gewissermassen verantwortlich für das Ringen um Kelmis: Seine Niederlage bei der Schlacht von Waterloo 1815 führte zu einer Neuordnung Europas. Kelmis, bis dahin französisch, geriet quasi zwischen die Fronten, weil sich Preussen und die Niederlande nicht einigen konnten.
Das heutige Belgien gab es zu dieser Zeit noch nicht. Um keinen neuen militärischen Konflikt um die Galmei-Vorkommen zu riskieren, beschloss man also kurzerhand, das dreieinhalb Kilometer grosse Gebiet in direkter Nachbarschaft zu Aachen als neutrales Gebiet anzuerkennen. Der Name: Neutral-Moresnet.
Ein Polizist und kaum Steuern
Diese besondere Situation führte zu allerlei schrägen Entwicklungen, denn die angrenzenden Mächte wollten natürlich an die Bodenschätze, die dort auch weiterhin abgebaut und verkauft wurden. Sowohl Preussen als auch die Niederlande setzten also jeweils einen Kommissar ein, die beide gemeinsam über den Bürgermeister entschieden. Der hatte einen Gehilfen und darüber hinaus einen offiziellen Polizisten. Mehr öffentliche Ordnung gab es nicht.
Ähnlich verlief das auch beim Recht: Weil weder die eine noch die andere Macht rechtliche Zugeständnisse machen wollten, galt das napoleonische Recht, das zum Beispiel noch Prügelstrafen enthielt.
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Neutral-Moresnet war darüber hinaus die frühe Form einer Steueroase. Denn bis auf Luxusgüter wurde im Prinzip nichts besteuert. Ausserdem zog es viele junge Männer in das neutrale Gebiet, weil sie so dem Wehrdienst entgehen konnten.
Arbeit fanden sie in der Bergbaugesellschaft Altenberg, auf Französisch Vieille Montagne. Von ursprünglich 300 Menschen im Jahr 1816 stieg so die Zahl der Einwohner bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf 4.000.
Das Kelmiser Kneipenproblem
Viele junge Männer, die hart im Bergbau arbeiteten, kaum Steuern und billiger Alkohol: Das führte dazu, dass Kelmis ein Kneipenproblem bekam. In der Spitze befanden sich 80 Gasthäuser auf dem heutigen Gebiet - jedes dritte Haus. Darüber hinaus gab es illegale Boxkämpfe, Glücksspiel und Prostitution.
All diese Dinge waren in den benachbarten Niederlanden und in Preussen streng verboten. Über Gesetzesauslegungen des napoleonischen Rechts versuchten die Länder das Chaos einzudämmen. Ein Gesetz gegen Prostitution schrieb zum Beispiel vor, dass immer nur eine einzige Frau in einer Gastwirtschaft arbeiten durfte.
Weil sich aber in Neutral-Moresnet kein Gefängnis befand und nur ein Polizist mit der Situation konfrontiert war, ging das frivole Treiben noch Jahrzehnte weiter.
Viele Minenarbeiter besserten ihr Gehalt auf, indem sie zusätzlich Alkohol schmuggelten. Dazu füllten sie wasserdichte Fahrradrahmen mit Schnaps oder trainierten Hunde, die 15-Liter-Fässer über die jeweiligen Grenzen schmuggelten.
Wie machtlos Preussen und die Niederlande und später Belgien waren, zeigt sich daran, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts drei Destillen an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr Alkohol herstellten.
Esperanto als Amtssprache
Um die Jahrhundertwende setzte sich der damalige stellvertretende Bürgermeister und Betriebsarzt der Bergbaugesellschaft von Kelmis, Willhelm Molly, immer wieder dafür ein, aus Neutral-Moresnet einen souveränen Staat zu machen. Dazu liess er eigene neutrale Briefmarken drucken, kontaktierte die europäische Presse und setzte sich mit dem Esperanto-Weltverband in Genf in Verbindung.
Was ist Esperanto?
- Esperanto ist eine Kunstsprache, die vom Arzt Ludwig Zamenhof entwickelt wurde. Aus vielen europäischen Sprachen - wie Spanisch, Deutsch und Englisch - schuf Zamenhof diese Sprache, die auch heute noch die am weitesten verbreitete Kunstsprache weltweit ist.
Der Esperanto-Weltverband wollte nicht nur seinen Sitz von Genf nach Kelmis verlegen, sondern mit Neutral-Moresnet auch einen ersten Staat haben, in dem diese Kunstsprache Amtssprache war.
Künftig sollte der Staat Amikejo heissen, dem Esperanto-Ausdruck für "Ort der Freundschaft". Finanzieren sollte sich der Staat durch Casinos, im Prinzip ein Monte-Carlo an der deutsch-belgischen Grenze.
Das jähe Ende einer Fussnote der Geschichte
Trotz dieser relativ konkreten Pläne ist aus dem neutralen Gebiet nie ein richtiger Staat geworden. Als die Bewohner von Neutral-Moresnet im Jahr 1914 die 100-Jahr-Feier planten, wurde in Sarajevo der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet. Dieses Attentat von Sarajevo markierte den Beginn des Ersten Weltkriegs.
Das Deutsche Kaiserreich marschierte in Belgien ein. Nach dem Krieg und der Niederlage Deutschlands wurden abermals die Grenzen, ähnlich wie 1815, neu verhandelt.
Damit war Schluss mit dem neutralen Gebiet: Ab diesem Zeitpunkt gehört die Ortschaft Kelmis und damit das Gebiet Neutral-Moresnet zu Belgien. Wo früher 80 Kneipen und drei Destillerien waren, die rund um die Uhr Alkohol hergestellt haben, gibt es heute nut noch ein Museum, das davon berichtet.
Verwendete Quellen
- spotify.com: Podcast: "Jedes dritte Haus eine Kneipe, kaum Steuern und nur ein Polizist – Museum Vieille Montagne" – Bitte nicht anfassen Folge 6
- Dröge, Philip: Niemands Land: Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte, Piper, 2017.
- mvm-kelmis.be: Homepage des Musée Vieille Montagne
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