Polnische Taucher wollen das Wrack des deutschen Schiffes "Karlsruhe" aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden haben. An Bord vermuten sie das legendäre Bernsteinzimmer, dessen Spuren sich seit 1945 verlieren. Ein Experte ordnet den Mythos des Nazischatzes ein.

Mehr Panormathemen finden Sie hier

Dieser Fund könnte eine jahrzehntelange Schatzsuche beenden: Polnische Taucher haben in der Ostsee möglicherweise Hinweise auf das legendäre Bernsteinzimmer entdeckt. Bei einem Tauchgang sind sie auf das Wrack eines deutschen Frachtschiffs aus dem Zweiten Weltkrieg gestossen, auf dem sich Militärfahrzeuge, Porzellan und Kisten befinden.

Zwar ist über deren Inhalt noch nichts bekannt, die Tatsache, dass sie an Bord des versunkenen Schiffs sind, löst jedoch Spekulationen aus. Der Grund: Bei dem Wrack handelt es sich um das Frachtschiff "Karlsruhe", das wenige Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs den Hafen der preussischen Stadt Königsberg verliess, die heute Kaliningrad heisst und zu Russland gehört.

Mehr als 500 Geschichten ranken sich um das Bernsteinzimmer

Die Abreise der "Karlsruhe" im April 1945 ist für die Jäger des Bernsteinzimmers insofern interessant, als dass das Zimmer zuletzt in Königsberg aufgebaut war und seitdem als verschollen gilt. Taucher der polnischen Baltic Tech Group glauben nun, die "Karlsruhe" auf dem Grund des Meeres gefunden zu haben und ihren Videoaufnahmen zufolge erscheint das Wrack relativ intakt.

Das schürt Hoffnung auf die Entdeckung des Schatzes, wenngleich ungewiss ist, ob er überhaupt im Schiff verborgen ist. "Laut einem ehemaligen Offizier der Roten Armee gibt es 510 unterschiedliche Geschichten über den Verbleib des Bernsteinzimmers", sagt Wolfgang Eichwede.

Der deutsche Historiker und emeritierte Professor an der Universität Bremen beschäftigt sich mit Beutekunst, insbesondere mit sowjetischen Kulturgütern, die die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gebracht haben. Eichwede hat schon zahlreiche Theorien gehört.

Die meisten gehen entweder davon aus, dass sich das Bernsteinzimmer in nicht freigelegten Kellerräumen des alten Königsberger Schlosses befindet, oder, dass es an der Küste des früheren Ostpreussen vergraben oder überschwemmt wurde.

Letztere Version passt zum Fundort der "Karlsruhe" an der polnischen Küste. Die These vom möglichen Schatz an Bord des Schiffs stützt sich auf die Tatsache, dass die Nationalsozialisten dort damals sowjetische Kunst raubten. Im Oktober 1941 besetzte die deutsche Armee das Katharinenschloss in St. Petersburg. Sogenannte Kunstschutzoffiziere der Wehrmacht gaben den Befehl, vor allem jene Werke mitzunehmen, die nach Ansicht des Regimes aus Deutschland kamen und daher auch wieder dorthin zurückgebracht werden sollten, sagt Eichwede.

Das Bernsteinzimmer fiel den Nazis zufolge in diese Kategorie, weil es sich um ein Geschenk des Preussenkönigs Friedrich Wilhelms I. handelte. Er hatte den prunkvoll gestalteten Raum, der zunächst Teil des Berliner Stadtschlosses war, 1716 an den russischen Zaren Peter den Grossen verschenkt. Dauerhaft aufgebaut wurde es erst unter Zarin Elisabeth, sie bekam ausserdem von der Habsburger Kaiserin Maria Theresia vier italienische Mosaike zur Ausschmückung und Erweiterung des Bernsteinzimmers.

stonehenge

Forscher lösen Rätsel um Stonehenge-Felsen

Eines der Rätsel um die prähistorische Stätte Stonehenge ist gelöst. Forscher haben herausgefunden, woher die grossen Felsen stammen.

Vom Originalzimmer ist heute nur ein Mosaik übrig

Bis heute ist eines der vier Mosaike das einzig verbleibende Teil des Originalzimmers, sagt Eichwede, denn der Kunstraub der Nationalsozialisten wurde sabotiert. Zwar gelang es ihnen 1941, das Zimmer in St. Petersburg abzubauen und Wandverkleidungen und Interieur ab 1942 im Schloss Königsberg in Teilen auszustellen, doch schon beim Abtransport aus St. Petersburg fiel auf, dass nur noch drei Mosaike vorhanden und andere Teile des Zimmers verwüstet worden waren.

Als 1944 die alliierten Bomberflotten Königsberg erreichten, sollte das Bernsteinzimmer erneut weggebracht werden – und damit verliert sich seine Spur. Möglicherweise hat die "Karlsruhe" vor gut 75 Jahren nicht nur mit zahlreichen Flüchtlingen, sondern auch mit dem Schatz an Bord den Hafen Königsbergs verlassen. "Ich kann es nicht ausschliessen", sagt Eichwede. Fest steht nur: Das Schiff erreichte nie sein Ziel, weil es von sowjetischen Flugzeugen angegriffen und versenkt wurde, viele Menschen verloren dabei ihr Leben.

Nun, da das Wrack mutmasslich aufgetaucht ist, will die polnische Schifffahrtsbehörde in Gdingen mit Untersuchungen und der Hilfe von Archäologen, Denkmalpflegern und weiteren Experten Klarheit darüber erlangen, ob es sich tatsächlich um die "Karlsruhe" handelt. Sollte sich die Vermutung nicht bestätigen, wäre dies nicht das erste Mal, denn immer wieder sorgen Suchaktionen für Aufsehen.

Georg Stein etwa, ein ehemaliger Soldat, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, forschte in den 1960er- und 70er-Jahren nach dem Bernsteinzimmer. "Er betrieb die intensivste Suche, die man sich vorstellen kann", sagt Eichwede. "Ihn plagte ein schlechtes Gewissen wegen seiner Taten in Russland." Auch ein Bürger der früheren DDR wollte das Zimmer unbedingt finden, ebenfalls ohne Erfolg. Beide Männer starben kurze Zeit später, wobei Georg Stein überraschend sein Leben verlor. "Ich kann dazu aber keine Vermutung anstellen", sagt Eichwede.

Original-Mosaik wurde gestohlen und tauchte durch Zufall wieder auf

Die Sowjetunion gründete sogar eine Kommission für die Suche, stellte ihre Arbeit Mitte der 1980er-Jahre aufgrund mangelnder Ergebnisse aber ein. Die wenigen erhaltenen Akten der Wehrmacht geben keinen Hinweis auf den Verbleib des Bernsteinzimmers. Seither machen immer wieder Gerüchte von vermeintlichen Fundorten in Sachsen, Thüringen und Polen die Runde.

Wer wissen möchte, wie das Bernsteinzimmer aussieht, kann die originalgetreue Nachbildung besichtigen, die seit 2003 im Katharinenpalast in St. Petersburg steht. Das einzige erhaltene Mosaik aus dem Originalzimmer wurde übrigens an Russland zurückgegeben, sagt Eichwede.

Ein deutscher Kraftfahrzeugfahrer hatte es während des Kriegs aus dem damaligen Königsberger Schloss entwendet und in seine Heimat gebracht. Weil dessen Sohn es nach dem Tod seines Vaters verkaufen wollte, wurde die Staatsanwaltschaft aufmerksam und beschlagnahmte das Kunstwerk im Mai 1997. Es folgte ein aufwändiger Prozess und Eichwede organisierte schliesslich von 1999 bis 2000 die Rückgabe des Mosaiks an Russland.

Das Bernsteinzimmer lässt den Historiker bis heute nicht los, alles daran fasziniert ihn, sein Material, seine Geschichte, seine Rekonstruktion. Bei Bernstein handelt es sich um versteinertes Baumharz, das im Licht zu leuchten scheint und dem eine schützende Wirkung nachgesagt wird.

Weiterhin wurde das Bernsteinzimmer aus sowjetischer Perspektive im Lauf der Geschichte vom Geschenk des Preussenkönigs an den russischen Zaren zum Symbol des deutschen Kunstraubs. Die jahrzehntelange, abenteuerliche Suche nach dem verschollenen Schatz liess die Legende um das Bernsteinzimmer weiterwachsen und selbst der nachgebaute Mythos im Katharinenschloss zieht einen in seinen Bann, sagt Eichwede. "Tatsächlich ist das Zimmer schön."

Über den Experten: Wolfgang Eichwede ist ein deutscher Historiker. Der emeritierte Professor ist Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Wolfgang Eichwede
  • Wolfgang Eichwede: Die Kunst der Stunde Restitution zwischen Expertise und Diplomatie: Aus dem Maschinenraum der deutsch-russischen Kulturbeziehungen
  • MDR: Expedition zum Bernsteinzimmer: Hebt Polen den Schatz?
  • Reuters: Schiffswrack als Schlüssel zum Bernsteinzimmer?
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.