Archäologen haben in Nordspanien einen aussergewöhnlichen Fund gemacht. Fossile Fragmente eines Gesichts könnten zu einer bisher unentdeckten Art des Frühmenschen gehören.
Funde aus Nordspanien geben Einblick in die frühe Besiedlung Europas durch Menschenarten vor mehr als einer Million Jahren. Im Fachjournal "Nature" stellt ein internationales Forschungsteam gut erhaltene Schädelknochen aus der nordspanischen Sierra de Atapuerca vor, die zwischen 1,1 und 1,4 Millionen Jahre alt sind. Die Gruppe ordnet die Knochen der Art Homo affinis erectus zu. Der lateinische Zusatz "affinis" bedeutet "verwandt" und stammt daher, dass die Funde dem Homo erectus zwar stark ähneln, aber nicht eindeutig zugeordnet werden können.

Die Sierra de Atapuerca unweit der Stadt Burgos ist eine Fundgrube von Überresten von Tieren, verschiedenen Menschenarten und Steinwerkzeugen über den Zeitraum von Hunderttausenden von Jahren. Ebenfalls in dem Gebirgszug waren 2007 Überreste eines Homininen entdeckt worden, die knapp 900.000 Jahre alt sind.
Lebten vor einer Million Jahren zwei Homo-Arten auf der Iberischen Halbinsel?
Diese werden der Art Homo antecessor zugerechnet. Damit hätten in Westeuropa vor grob einer Million Jahren - also lange vor Entstehung des modernen Homo sapiens und auch des Neandertalers - vermutlich mindestens zwei verschiedene Menschenarten gelebt, folgert das Team um Rosa Huguet vom Institut Català de Paleoecologia Humana i Evolució Social (IPHES-CERCA) in Tarragona in "Nature".
Ob es sich aber tatsächlich um zwei Arten handelt und ob beide auch zur gleichen Zeit lebten, lasse sich zurzeit nicht abschliessend bewerten, räumt die Gruppe ein. Generell ist die Bestimmung einer Art anhand einzelner, meist kleiner Knochenfragmente sehr problematisch und oft umstritten.
In der nordspanischen Sierra de Atapuerca hätte die damalige Umgebung eine grössere Bevölkerungszahl wohl zugelassen: Die Fundschicht enthielt reichlich Tierknochen - darunter Überreste vor allem von Vögeln, Nagern und Huftieren wie etwa Bisons und Flusspferden. Pflanzenreste deuten darauf hin, dass damals ein feuchtwarmes Klima herrschte.
Fund wirft neues Licht auf die Besiedlung Europas
Einfache Steinwerkzeuge und Schnittspuren an Tierknochen belegen, dass die damaligen Menschen im Umgang mit Tierkadavern technisch durchaus versiert waren. "Diese Praxis zeigt, dass die ersten Europäer mit den vorhandenen Tierressourcen vertraut waren und sie systematisch zu nutzen wussten", wird Erstautorin Huguet in einer Mitteilung ihres Instituts zitiert.
In jedem Fall wirft der neue Fund ein Licht auf die Besiedlung Europas: Der älteste Beleg für die von Afrika ausgehende Erschliessung des Kontinents stammt aus Dmanissi im Süden von Georgien. Er ist etwa 1,8 Millionen Jahre alt und wird ebenfalls der Art H. erectus zugeordnet. Das Team verweist zudem auf weitere wichtige Funde anderer Forschungsgruppen:
- unter anderem auf ein etwa 1,4 Millionen Jahre altes Stück Schädeldecke, das bei dem Dorf Kocabaş im Westen der Türkei gefunden wurde,
- auf den Zahn eines Homininen, entdeckt im Barranco León in der südspanischen Provinz Granada und geschätzt ebenfalls auf ein Alter von 1,4 Millionen Jahren, sowie
- auf den Fund von gut 1,4 Millionen Jahre alten Steinwerkzeugen, die dem H. erectus zugeschrieben werden, bei Korolevo im Westen der Ukraine.

Homo erectus verliess als erste Homo-Art Afrika
Die jetzige Entdeckung stütze die Annahme, dass die Besiedlung Europas schon vor mindestens 1,4 Millionen Jahren von Osten nach Westen erfolgte, schreibt die Gruppe in "Nature". Die meisten Fundstellen von Homininen, die mehr als 1,1 Millionen Jahre alt sind, liegen demnach im Süden des Kontinents nahe dem Mittelmeerbecken.
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Der Homo erectus gelte als erste Homo-Art, die den afrikanischen Kontinent verliess, schrieb die Anthropologin Susan Antón von der New York University im Jahr 2020 im Journal "Science". Er lebte ab vor grob zwei Millionen Jahren über eine Dauer von mehr als 1,5 Millionen Jahren und besiedelte demnach Afrika, Asien und Europa, der neuen Studie zufolge sogar bis zur Iberischen Halbinsel.
Wahrscheinlich war er auch ein direkter Vorläufer des Homo sapiens. Dieser entstand vor etwa 300.000 Jahren in Afrika und stiess erst vor etwa 50.000 Jahren nach Europa vor. (dpa/bearbeitet von mak)