Die wahre Geschichte vom Weihnachtsfrieden 1914 sollte man eigentlich viel öfter erzählen. Zwar gab es inoffizielle Waffenstillstände zwischen verfeindeten Kräften auch zu anderen Zeiten der Geschichte. Doch nie zuvor und nie wieder danach Verbrüderungen dieses Ausmasses. Mitten in den Schrecken des Ersten Weltkriegs zeigten sie eine tiefe Sehnsucht der Menschen nach Frieden.
Soldaten liegen in Schützengräben einander gegenüber. Nach stärksten Regenfällen im Dezember sinken die Temperaturen an Heiligabend. Es ist eisiger Winter. Das schlammige Schlachtfeld verwandelt sich in eine von Raureif überdeckte Landschaft, die zur Kulisse für etwas Einzigartiges werden wird.
Der Erste Weltkrieg tobt schon seit mehreren Monaten – zu seinem Beginn im August 1914 hatte man den Soldaten gesagt: "Zu Weihnachten seid ihr wieder zu Hause." Nun ist Dezember, kein Ende in Sicht, eine Million Menschen sind bereits gestorben. Dass es inmitten dieses Horrors massenweise zu Verbrüderungen zwischen Männern kommt, die eigentlich Feinde sind, zu Menschlichkeit, wo Hass auf allen Seiten propagiert wird, ist unglaublich.
Der englische Historiker Malcolm Brown berichtet 1984 in seinem Buch "Christmas Truce" (Weihnachtsfrieden) als Erster systematisch über die, wie er schreibt, "beste und herzbewegendste Weihnachtsgeschichte unserer Zeit". Von einem "Weihnachtswunder" sprach der 2019 verstorbene deutsche Journalist Michael Jürgs. In seinem Buch "Der kleine Frieden im grossen Krieg" trug er "die vielen kleinen Geschichten" zusammen, die es erzählen.
Dezember 1914: Der Albtraum vom Stellungskrieg
- Als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 29. Juni 1914. Auf der einen Seite stehen die Mittelmächte, vor allem das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, auf der anderen die Entente, die alliierten Mächte mit Grossbritannien, Frankreich, Russland.
Das Deutsche Reich will einen schnellen Sieg gegen Frankreich erzwingen und versucht eine riesige Umfassungsbewegung mittels Besetzung des neutralen Belgiens und Nordfrankreichs. Paris soll eingekesselt werden. Es misslingt. Beide Kriegsparteien versuchen erfolglos, die Flanken des Feindes zu umgehen. Das führt dazu, dass keinem mehr ein entscheidender Schlag gelingt. Ab Herbst 1914 stehen sich die Gegner an der Westfront gegenüber. Sie ist 700 Kilometer lang und reicht von der belgischen Küste bis zur schweizerischen Grenze.
Mit Schützengräben und Stacheldraht sichern Soldaten ihre Stellungen. Der Albtraum, der zum Stellungskrieg werden sollte, hat begonnen. Den Soldaten an der Front ist bald klar: Dies ist ein Zermürbungskrieg. Die beispiellosen Schlachten, das Massentöten durch schwere Artillerie, das oft stundenlange, teilweise tagelange Dauerfeuer führen zu bis dahin unvorstellbaren Opferzahlen. So geht es jahrelang. Bis zum Frühjahr 1918 wird sich am Frontverlauf nur wenig ändern.
"Es schien wie ein Traum": Soldaten berichten in Briefen ihren Familien
Fernab der Heimat lesen die Soldaten an Heiligabend 1914 die Weihnachtsbriefe ihrer Liebsten. Die Gräben der Feinde sind mit etwa 100 Metern, manchmal sogar weniger, ungewöhnlich nah. Wo gerade noch um jeden Meter Boden gekämpft wird, bricht spontan Frieden aus, teilweise einfach auf Zuruf ("Wir schiessen nicht, ihr schiesst nicht!") oder durch den Austausch von Zetteln und - das ist das Ungewöhnliche - gegen den offiziellen Befehl.
Eindringliche Appelle wie die des neuen Papstes Benedikt XV. zu einem Waffenstillstand lehnen die Kriegführenden ab. Es soll weitergekämpft werden. Doch vor allem in der Umgebung von Ypern in Flandern halten sich Soldaten nicht mehr an solche Befehle.
Tausende Briefe und Tagebucheinträge von der Front erzählen laut Jürgs davon. Hier schreibt ein Brite seiner Frau, wie es nach den zugerufenen Wünschen in der Heiligen Nacht zu den Begegnungen mit dem Feind kam: "Einige Deutsche hätten auf Instrumenten Lieder gespielt - 'God save the King' und 'Home Sweet Home'. Ihr könnt euch unsere Gefühle vorstellen. Später am Tag kamen sie auf uns zu und unsere Jungs gingen ihnen entgegen. Natürlich hatte keiner von uns ein Gewehr. Ich schüttelte einigen von ihnen die Hand und sie gaben uns Zigaretten und Zigarren. Wir haben an diesem Tag nicht geschossen und alles war so ruhig, es schien wie ein Traum. Wir nutzten den ruhigen Tag und brachten unsere Toten herein."
Wie diese "schönste aller Weihnachtsfeiern" möglich war
Hätte es solche Szenen vereinzelt gegeben, wäre das schon erstaunlich. Doch es passiert massenweise, laut Brown mindestens an etwa zwei Dritteln der britischen Frontlinie, vor allem in Flandern. Offiziere, die den Krieg ebenfalls satthaben, sehen weg oder schliessen sich sogar an. Meistens gehen die Waffenstillstände von den deutschen Soldaten aus. Auch mit Franzosen und Belgiern kommt es zu Verbrüderungen, aber zögerlicher.
Wie konnte es sein, dass Soldaten inmitten dieser "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", wie der Erste Weltkrieg genannt wird, von einer "wundervollen, wenn auch etwas kalten Nacht" berichten? Von einem sehr lustigen Tag ("a very funny day"), von der "schönsten Weihnachtsfeier, die ich je erlebte", von drei Tagen, die "ich nicht für irgendetwas anderes missen möchte"?
In den Briefen wird es oftmals so geschildert: Die Deutschen begannen, die Weihnachtsbäume – Tausende waren ins Hinterland der deutschen Stellungen geliefert worden - auf die Befestigungen zu setzen.
Dazu die Kraft der Musik. Die Gegner nehmen es zunächst ungläubig wahr: Dort schimmern Kerzen, es ist windstill, der Raureif glänzt im Mondlicht und aus Hunderten Kehlen erklingen Weihnachtslieder. Es kommt friedliche Stimmung auf, auf beiden Seiten. Sehnsucht, Wehmut – sang man diese Lieder doch sonst im Geborgenen, mit der Familie.
Oft macht dann einer den Anfang und klettert aus dem Graben. Oder es ist eine kleine Gruppe, die unbewaffnet auf die anderen zugeht, eigentlich Wahnsinn. "Das Niemandsland wird zum Jedermannsland", wie Jürgs schreibt: "Sie treffen sich mit Gegnern, die sie vor zwei Tagen auf Sicht sofort erschossen hätten, auf diesen gottverlassenen Totenäckern."
Geteiltes Leid im Niemandsland
Die jungen Männer finden sofort Wege, sich zu verständigen, gemeinsame Themen gibt es genug: Sie kämpfen ja nicht nur gegeneinander, sondern mit ständiger Todesangst. Mit den katastrophalen hygienischen Zuständen, dem metertiefen Schlamm, schweren Krankheiten, Läusen, Ratten, permanentem Gestank, Schlafmangel.
Sie alle hassen den Krieg. Sie schütteln einander die Hände, tauschen Adressen aus und Ratschläge – etwa zur Bekämpfung der Läuse – sowie Knöpfe und Abzeichen. Zigaretten oder Käse gegen Pudding oder einfach als Geschenk. Manche knipsen Fotos (s. Galerie unten). Ein Brite schildert in seinem Brief, wie die Deutschen zwei grosse Fässer Bier herüberrollen. Sie erzählen sich Witze und lachen. Man teilt seinen Kummer.
Ein britischer Offizier verspricht einem Deutschen, einen Brief an seine Liebste in Suffolk zu übermitteln. Ein deutscher Offizier bittet einen britischen Kaplan, der Frau eines schottischen Soldaten mitzuteilen, wie ihr Mann gestorben sei: Er habe im Todeskampf versucht, seine Brusttasche zu öffnen. Der Gegner half ihm und fand das Foto einer jungen Frau. "Ich hielt es ihm vor Augen", erzählt er und der Kaplan schreibt es Wort für Wort in sein Notizbuch, "und so blieb er liegen, den Blick auf sie gerichtet, bis er nach ein paar Minuten starb".
"Stille Nacht" und die gemeinsame Fussball-Leidenschaft
Man einigt sich auf inoffizielle Waffenstillstände, um die qualvoll im Niemandsland verendeten Kameraden endlich bestatten zu können. Dieser Wunsch eint sie alle, denn die Toten liegen dort zum Teil seit Wochen. Wer sie barg, machte sich zur Zielscheibe für den Feind - an normalen Tagen.
Weihnachten nun helfen sie einander sogar dabei, die Kameraden zu begraben. Es kommt – für Brown das eigentliche Wunder - zu gemeinsamen Gedenkfeiern und Gebeten. Der berühmte Psalm 23 ("Der Herr ist mein Hirte") erklingt in verschiedenen Sprachen.
"Stille Nacht" habe er hier zum ersten Mal gehört, schreibt der britische Schütze Graham Williams in seinen Memoiren. Das Lied sei in seiner Heimat überhaupt erst nach diesem Ereignis bekannt geworden. Die Hymne dieser Tage soll vor allem "O Come All Ye Faithful" ("Adeste fideles") gewesen sein. Auch "O Tannenbaum" und "Auld Lang Syne" werden vielfach erwähnt.
"Es war ein feierlicher Abend, den wohl keiner in seinem Leben je vergessen wird", schreibt ein 17-jähriger Deutscher kurz darauf. Viele berichten, wie anrührend es war, obwohl gleichzeitig so verrückt. "Weil die Wirklichkeit wahnsinnig ist, finden Briten, Franzosen, Deutsche, Belgier an Weihnachten wahnsinnig anmutende Alternativen. Auch das ist eine Ursache für das Wunder, das so erklärt kein Wunder ist, sondern eine natürliche, gesunde Reaktion auf den Schrecken. Sie schaffen sich Frieden und heilen sich dadurch vorübergehend selbst. Laut singend, laut feiernd", fasst Jürgs zusammen.
Dass es auch zu einem richtigen Fussballmatch kommt (die Briten berichten bald darauf in den Medien darüber - sie nennen sogar das Ergebnis: 3:2 für Deutschland), fällt wohl in den Bereich der Legenden. Dennoch ist die Rolle des Fussballs bei diesem Wunder - der amerikanische Historiker Stanley Weintraub nennt ihn die "Religion der Arbeiterklasse" - nicht zu unterschätzen. Es ist belegt, dass Hunderte Männer an den Weihnachtstagen zwischen den Fronten kicken.
"Hätte man 10.000 Fussbälle an der gesamten Front verteilt und alle gegeneinander spielen lassen", schreibt später ein französischer Soldat, "wäre das nicht eine glückliche Lösung gewesen? Krieg ohne Blutvergiessen?"
Wie es danach weiterging
Die Soldaten wollen nach diesem kleinen Frieden erst recht nicht weiterkämpfen. Doch er dauert in den meisten Fällen nur einige Tage oder Wochen. Es wäre kein weiterer Schuss gefallen, sagt später der Schotte Murdoch McKenzie Wood, ehemaliger Major, in einer Rede im Parlament, "falls wir uns selbst überlassen worden wären".
Mancherorts war vorher schon klar vereinbart worden, wie lange der inoffizielle Waffenstillstand dauern sollte. Andernorts kommt der scharfe Befehl, unter Androhung höchster Strafen, wieder zu schiessen. Manche verweigern dennoch und müssen in den Gräben durch andere Männer ersetzt werden. Auch gibt es Belege von Warnungen der Deutschen an alliierte Soldaten: "Liebe Kameraden, ich muss euch davon informieren, dass es uns ab sofort verboten ist, uns mit euch draussen zu treffen. Aber wir werden stets eure Kameraden bleiben. Falls wir gezwungen werden sollten zu schiessen, dann werden wir immer zu hoch schiessen."
Hochrangige Offiziere versuchen damals alles, die Verbrüderungen dieser Nacht nirgends zu dokumentieren. In den Eintragungen der Infanterieregimenter werden die Geschehnisse oft totgeschwiegen oder heruntergespielt. Vor allem Deutsche und Franzosen reden sie damals klein, die Zensur schlägt zu, während die britische Presse begeistert reihenweise Soldatenbriefe und Fotos abdruckt. Bis heute ist der Weihnachtsfrieden von 1914 dort viel bekannter als in Deutschland.
Was ausser vielen Briefen bleibt
Heute könnte man fragen: Was hat dieses Weihnachtswunder gebracht? Am Heiligen Abend im Jahr darauf soll es Versuche gegeben haben, ihn zu wiederholen, doch die meisten wurden im Keim erstickt. Der kleine Frieden sollte sich so nicht wiederholen. Manche Historiker wie Weintraub meinen, später im Krieg hätte er womöglich zu einem dauerhaften Frieden führen können. Doch der Schrecken, das massenweise Sterben gehen noch jahrelang weiter. Eine bedeutende Wende bringt der Kriegseintritt der USA 1917. Zwischen neun und zehn Millionen Soldaten sterben bis Ende dieses Krieges im November 1918, der nur 21 Jahre später den Zweiten Weltkrieg nach sich ziehen wird.
Das ist der eine Teil der Antwort. Einen anderen liefern die Botschaft und das Gedenken. Zahlreiche Denkmäler, Gedenkstätten, Zeremonien mit hochrangigen Politikern, auch Fussballspiele an Orten des Geschehens erinnern daran, dass es die tiefe Sehnsucht nach Frieden war, die Menschen damals zusammenführte.
Der Deutsche Carl Mühlegg geriet als Zeuge dessen, was Weihnachten zu bewirken vermochte, Zeit seines Lebens ins Schwärmen: dass "Soldaten hüben wie drüben (…) die einander nichts getan haben und persönlich keine Feinde waren (…), nun im Wunder der Heiligen Nacht, im Mythos der Geburtsstunde Christi, sich gegenseitig beschenkten und freundschaftlich die Hände drückten".
Oder wie der britische Berufssoldat Harold Stein, der den Weihnachtsfrieden selbst miterlebte, mehr als 50 Jahre später in einem Beitrag für seine Heimatzeitung schrieb: Es sei einer jener seltenen Momente gewesen, in denen man erleben durfte, dass die "Bruderschaft der Menschen" stärker war als Hass und Feindschaft.
Verwendete Quellen
- Michael Jürgs: "Der kleine Frieden im Grossen Krieg: Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten" (C. Bertelsmann)
- Website "Christmas Truce"
- Bundeszentrale für politische Bildung: Erster Weltkrieg
- "Lebendiges Museum Online", Deutsches Historisches Museum: Der Stellungskrieg
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