• Die Energiekrise könnte zum Gamechanger für die Energiewende werde – doch ein Selbstläufer ist sie nicht.
  • Dabei sind die technischen Voraussetzungen längst vorhanden, sagt ein Energie-Experte.
  • Im Interview erklärt er auch, was bei der Umsetzung schiefläuft und räumt mit verbreiteten Mythen auf.
Ein Interview

Kürzlich fand die Weltklimakonferenz in Scharm el-Scheich statt. Der Ausstieg aus fossilen Energieträgern wurde nicht beschlossen. Ist die Energiewende dennoch aus Ihrer Sicht dennoch auf einem guten Weg?

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Michael Sterner: Auf jeden Fall. Vor zehn Jahren wurden global noch 90 Prozent der Investitionen in Kohle, Öl und Gas gesteckt, heute gehen 90 Prozent in erneuerbare Energien. In der Wirtschaft wurde der Schalter längst umgelegt und es wird auch gar nicht anders gehen, weil Wind, Solar und Wasserkraft die kostengünstigsten Energiequellen überhaupt sind. Ein Selbstläufer ist es trotzdem nicht, da es immer noch Hürden und massive Investitionen in fossile Energiequellen gibt. Aber der Weg in die Klimaneutralität ist unausweichlich und die aktuelle Energiekrise ist ein Beschleuniger. Die letzten zehn Jahre haben wir weitgehend in den Sand gesetzt. Ende der 2000er-Jahre gab es noch eine florierende Wind- und Solarbranche in Deutschland, die aber politisch kaputtgemacht wurde – man kann es nicht anders sagen. Wäre das nicht passiert, hätten wir es heute leichter. Aber der Blick nach vorne ist jetzt wichtiger.

Woran hapert es in Deutschland am meisten beim Ausbau erneuerbarer Energien?

Es hapert an drei Dingen: Genehmigungsverfahren, Personal und Material. Die Genehmigungsverfahren für Windparks oder Solaranlagen sind langwierig und werden zum Teil von Beamten und Behörden systematisch blockiert. Bei der Coronakrise hat es einen Tag gedauert, bis die Genehmigung für ein neues Biontech-Impfstoffwerk da war - bei einem Windrad dauert es drei bis fünf Jahre bis zur Genehmigung. Und dann ist das Windrad noch nicht gebaut. Gemeinderäte argumentieren häufig mit Halbwissen oder sitzen Mythen auf. Sie sagen Dinge wie: "Wir produzieren genug Strom für unsere Gemeinde, wir müssen nicht noch mehr produzieren." Das ist, als dürfte ein VW-Werk in Wolfsburg nur so viele Autos produzieren, wie die Wolfsburger brauchen. Es ist teilweise wirklich absurd.

Also wäre ein kompletter Umstieg auf erneuerbare Energien heute schon möglich, wenn die Politik mitspielen würde?

Ein Umstieg wäre schon heute technisch möglich, aber selbst wenn die politischen Rahmenbedingungen passen würden, fehlt es immer noch an Personal und Material. Wer seine Gasheizung durch eine klimafreundliche Wärmepumpe ersetzen will, findet oftmals keine Handwerker. Es fehlt auch an Fachkräften, die Wind- und Solarparks planen oder Elektroautos bauen. Durch die Politik, die sich lange gegen die Energiewende gestemmt hat, wurde die Branche für Arbeitnehmer wenig attraktiv. Der dritte Bremsklotz ist das Material. Wenn zwischen China und Taiwan so etwas wie zwischen Russland und der Ukraine passieren würde, hätten wir auf einen Schlag keine Solarmodule mehr. Wir dürfen unsere Wirtschaft in zentralen Dingen wie Energie, Wasser und Struktur nicht komplett vom Ausland abhängig machen. In Europa wird die Landwirtschaft stark subventioniert, damit wir uns selbst ernähren können. Bei Energie sollte es auch so sein.

Bei der Lektüre Ihres Buches bekommt man den Eindruck, dass Bayern der mit Abstand grösste Bremsklotz in Sachen erneuerbare Energien in Deutschland ist. Stimmt das?

Ablehnung gegen Windräder findet man überall, aber Bayern hat die mit Abstand strengsten Abstandsregelungen und nur Bayern hat sich so massiv gegen den Ausbau der Stromtrassen gewehrt. Die 10-H-Regelung in Bayern ist durch Lobbyismus von unseriösen Gruppen entstanden. Diese Regelung ist wirtschaftlich absolut sinnlos und hat sich zum Wettbewerbsnachteil für Bayern entwickelt. Für die Firmen sind erneuerbare Energien eine Voraussetzung, um günstig und klimaneutral produzieren zu können. Also ja, Widerstand konzentriert sich schon sehr auf Bayern, gefolgt von Sachsen. Norddeutschland ins insgesamt viel fortschrittlicher bei der Energiewende, allen voran Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen. Auch Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und Rheinland-Pfalz sind positive Beispiele. Und seit Winfried Kretschmann an der Regierung ist, kann man auch Baden-Württemberg dazu zählen. Selbst das Braunkohleland Brandenburg sieht Wind- und Solarenergie als Zukunftschance.

Sie beschreiben eine Art Masterplan für die Energiewende. Wie sieht dieser konkret aus?

Ich habe in meinem Buch den kostengünstigsten Weg beschrieben, wie wir es mit den bestehenden Technologien schaffen, die Pariser Klimaziele einzuhalten. Grob gesagt sind dafür drei Schritte notwendig: Energieeffizienz steigern, erneuerbare Energien ausbauen und Verhaltensänderungen herbeiführen. Mit Blick auf die Technologien geht es im Kern darum, Wind- und Sonnenenergie massiv ausbauen, das heisst, es ist nötig, die Windkraft an Land zu vervierfachen und die Windkraft auf See samt Solarstrom zu verzehnfachen. Im zweiten Schritt sind Netze und Speicher auszubauen, als Drittes dann Gebäude zu dämmen und mit erneuerbaren Heizungssystemen auszustatten. Im Bereich Verkehr gilt es, die Elektromobilität auszubauen und die Industrie komplett umzubauen auf Klimaneutralität mit Strom, Wasserstoff, Power-to-X, Solarthermie und Biomasse. Landwirtschaft und Forstwirtschaft sollten wieder nachhaltig werden. Die Technologien sind alle längst da, wir müssen sie nur flächendeckend einsetzen. Natürlich kommen da grosse Investitionen auf uns zu, aber im Vergleich zu den Schäden, die durch den Klimawandel entstehen, sind die Kosten gering.

Was kann jeder Einzelne zur Energiewende beitragen?

Der Knackpunkt bei der Umsetzung liegt bei Politik und Gesellschaft. Die Politik sollte über Verbote und Anreize die Menschen zu einer Verhaltensänderung bewegen, aber am Ende trifft jeder Einzelne für sich die Entscheidungen. Es ist eine Illusion zu glauben, der Einzelne könne nichts bewirken. Jeder entscheidet für sich, ob er mit Bus oder Bahn zur Arbeit fährt oder das Auto benutzt. Jeder Hausbesitzer entscheidet, ob er eine Wärmepumpe einbauen lässt oder die Ölheizung behält. Jeder Mieter entscheidet, ob er auf einen Ökostromtarif wechselt oder nicht. Der Einzelne ist aber auch ein Vorstand bei einem Konzern und entscheidet, ob er das Unternehmen Richtung Nachhaltigkeit ausrichtet oder nicht. Dazu ist es hilfreich, wenn wir alte Gewohnheiten über Bord werfen. Für viele bedeutet ihr Auto Freiheit - ein "Weiter so" bedeutet aber Klimakatastrophe und den Verlust von Lebensraum und damit den Raub der Freiheit vieler anderer. Wenn jedem bewusst ist, dass er Teil der Lösung ist, dann haben wir es geschafft.

Wie schafft man das?

Damit Menschen die Entscheidung zu einem klimafreundlicheren Lebensstil treffen, muss erst ein Problembewusstsein geschaffen werden und dann müssen die Menschen auch wissen, was sie tun können. Bewusstseinsbildung gelingt einerseits über Zahlen, Daten, Fakten und andererseits über Emotionen. Wir brauchen eine positive Vision der Zukunft, wofür sich die Anstrengung lohnt. Nur Verzicht zu predigen, ist nicht sexy, damit verlieren wir die Leute. Wir motivieren am besten durch positive Leitbilder.

Ein gängiges Argument der Windkraftgegner ist, dass die Infraschall-Frequenzen der Windräder gesundheitsschädlich seien. Was entgegnen Sie da?

Infraschall von Windrädern ist physikalisch nicht in der Lage, Zellschäden hervorzurufen. Es gibt Studien, die das eindeutig belegen. Bei 300 Metern Abstand zu einer modernen Windkraftanlage liegt der Infraschallpegel unter der menschlichen Wahrnehmungsschwelle. Im Innenraum eines fahrenden Pkw ist der Infraschallpegel wesentlich höher. Die Angst vor Infraschall kommt daher, dass die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Ressourcen - die unter anderem für die Förderung von Kohle, Öl und Gas zuständig ist – 2005 eine Studie herausgebracht hat, deren Infraschallmessungen rund 4.000-fach zu hoch war. Die Uni Bayreuth hat den Rechenfehler aufgedeckt, letztlich hat sich der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dafür entschuldigt. Aber die Studie wurde 16 Jahre lang verbreitet. Der Mythos beruht also auf einem Rechenfehler.

Ein weiteres Argument gegen Windkraft ist, dass Vögel durch die Anlagen getötet werden.

Es stimmt, dass Vögel durch Windräder sterben. Verglichen mit anderen Todesursachen ist das Problem aber vergleichsweise gering: Bei etwa 30.000 Windrädern in Deutschland sterben pro Jahr bis zu 120.000 Vögel durch Windkraftanlagen – allein im Strassenverkehr sind es dagegen 70 Millionen. Technische Lösungen wie kamerabasierte Systeme, die Vogelanflug erkennen und Windräder bei Bedarf anhalten, können die Fallzahlen deutlich verringern. In Europa kommt das schon zum Einsatz, nur die deutschen Behörden prüfen noch.

Für Windkraftanlagen in Wäldern müssen Bäume gefällt werden, die CO2 speichern. Windkraftgegner sagen, die Rechnung geht nicht auf – Bäume würden auf der gleichen Fläche mehr CO2 speichern, als durch Windkraftanlagen vermieden werden kann.

Auf einem Hektar speichert ein Wald ungefähr zwölf Tonnen CO2. Für ein Windrad benötigt man - sehr grosszügig gerechnet - 0,5 Hektar. Rechnet man aus, wie viel Strom aus Kohle, Gas und Öl durch ein Windrad ersetzt werden kann und wie viel CO2-Emission dadurch vermieden wird, kommt man auf eine Ersparnis von 6.000 Tonnen CO2 pro Jahr. Ein Windrad kann also 1.000-mal mehr CO2 vermeiden, als ein Wald auf dieser Fläche speichern kann. Ich würde sagen, die Rechnung der Windkraftgegner geht nicht auf.

Bei Solaranlagen hingegen gibt es die Sorge vor Elektrosmog ...

Gleichstrom, wie wir es zum Beispiel aus Haushaltsbatterien kennen, erzeugt kein elektromagnetisches Feld und damit keinen Elektrosmog. Bei Photovoltaikanlagen auf dem Dach haben wir ebenfalls Gleichstrom, also keinen Elektrosmog – das ist physikalisch ausgeschlossen und kann in jedem Physikschulbuch der Mittelstufe nachgeschlagen werden. Lediglich am Wechselrichter oder am Transformator einer grossen Anlage im Freien existiert ein elektromagnetisches Feld.

Auf der Homepage eines Energieversorgers steht, dass ein grosses Problem bei Wind- und Solarenergie noch immer die Speicherung sei.

Die Speicher sind längst da. Und wir haben riesige Gasspeicher, die die Energieversorgung über drei Monate sicherstellen können. Das Einzige, was sie machen müssen, um in die Gasnetze hineinzukommen, ist "Power-to-Gas", was seit 13 Jahren existiert. Damit kann man Wind und Sonne in die Gasspeicher hineinbringen. Darüber hinaus können wir für kurze Dauer die bestehenden Pumpspeicher und die fast 500.000 Heimbatteriespeicher nutzen. Dass die Speicherung von Strom aus Wind und Sonne ein Problem wäre, ist falsch und dient nur den fossilen Versorgern und den Lieferanten von fossilen Energieträgern.

Sie sind selbst bei "Scientists for Future" aktiv. Derzeit wird sehr kontrovers über die Protestaktionen der "Letzten Generation" diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Ich verstehe die Verzweiflung der Aktivisten, aber glaube, die Form der Proteste ist nicht zielführend. Wenn Strassen blockiert werden, kann ich das noch nachvollziehen, aber Museumsbilder haben nichts mit dem Klimaschutz zu tun. Grundsätzlich unterstütze ich aber ihre Forderungen: Würden wir das Dienstwagenprivileg abschaffen, könnten wir dauerhaft das 9-Euro-Ticket finanzieren. Und das Tempolimit wäre kostenlos und würde viele Menschenleben retten. Was die "Letzte Generation" fordert, ist absolut nicht zu vergleichen mit einer RAF, die mordet und den Staat erpresst. Und es wäre dumm, die Brandmelder wegzusperren, wenn die Hütte brennt.

Über den Experten: Prof. Dr. Michael Sterner ist Ingenieur und Professor für Energiespeicher und Energiesysteme an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg und einer der Leiter der Forschungsstelle für Energienetze und Energiespeicher (FENES). Als Energiespeicherexperte berät er unter anderem die Bundesregierung und ist mit "Scientists for Future" auch in der Klimabewegung aktiv. Sein Buch "So retten wir das Klima: Wie wir uns unabhängig von Kohle, Öl und Gas machen" ist am 5. Dezember 2022 erschienen.
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