An Initiativen im Kampf gegen die Verschwendung von Esswaren mangelt es nicht in der Schweiz. Jüngstes Beispiel ist die Lancierung einer Online-Spendendatenbank für die Nahrungsmittelindustrie. Solche Projekte sind sinnvoll, reichen aber nicht aus, wie Lebensmittel-Ethiker Thomas Gröbly im Interview erklärt.
swissinfo.ch: Rund 2,3 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in der Schweiz jährlich im Abfall. Das entspricht einem Drittel aller für den Konsum produzierten Lebensmittel. Sind wir dekadent?
Thomas Gröbly: Ja, so viele Lebensmittel zu verschwenden ist ein Skandal – ein Zeichen von Überfluss und Unachtsamkeit. Lebensmittel sind etwas Besonderes, denn ohne sie können wir nicht leben. Wir können nicht einfach das Brot mit dem Fahrrad austauschen und uns von einem Stahlrahmen und Gummipneus ernähren. Dennoch werden Lebensmittel immer mehr zu einer beliebigen Ware, Händler handeln sie gar an der Börse.
Stehen wir in der Schweiz bezüglich Lebensmittelverschwendung besonders in der Verantwortung?
T.G.: Klar, denn wir importieren 50 Prozent unserer Lebensmittel. Das heisst, wir besetzen irgendwo auf der Welt Land, das nicht für die lokale Versorgung gebraucht werden kann. Lebensmittelverschwendung kann Menschen daran hindern, Zugang zu Boden, Wasser und Essen zu bekommen.
Lebensmittelverschwendung bedeutet zudem auch immer eine Belastung der Umwelt, der Böden, des Wassers und des Klimas. Da die Landwirtschaft insgesamt für mehr als 30 Prozent der gesamten Umweltbelastung verantwortlich ist, führt Verschwendung zu einem erhöhten Druck. Dieser belastet die ärmsten Menschen in der Regel am stärksten. Das alles ist ethisch verwerflich.
Was hat Ethik mit Lebensmittelverschwendung zu tun?
T.G.: Ethik fragt nach dem Guten Leben für alle. Lebensmittelverschwendung widerspricht sämtlichen Regeln der Ethik. Sie ist Ausdruck einer Verachtung von Leben, von der Arbeit der Bäuerinnen und Bauern und von der Natur, die uns die Lebensmittel schenkt. Lebensmittelverschwendung erhöht unnötig den Druck auf die Menschen und die Natur.
Was müsste die Schweiz unternehmen?
Es geht nicht darum, Verantwortung für fremdes Handeln zu übernehmen. Für unser Handeln tragen wir aber die Verantwortung. Eine Lösung bietet das Konzept der Ernährungssouveränität, so dass jede Region auf dieser Welt die Möglichkeit hat, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen. Selbstversorgung, sozial und ökologisch verträglich und ohne jegliche nationalistische Abschottung haben Vorrang. Ernährungssouveränität ist somit wichtiger als der internationale Handel. Die Schweiz wird nie zu 100 Prozent selbstversorgend sein – ausser wir verzichten auf den Konsum von Fleisch. Wir werden kaum darum herumkommen, uns diese Frage zu stellen.
Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich bezüglich Lebensmittelverschwendung?
T.G.: Die Lebensmittelverschwendung in der Schweiz ist vergleichbar mit anderen westlichen Ländern. Der grösste Anteil der Verschwendung geschieht in den Privat-Haushalten. Das gilt beispielsweise auch für unsere Nachbarländer. In den Ländern des Südens gehen Lebensmittel jedoch meist auf dem Acker und bei der Lagerung verloren.
Onlineplattformen, Sensibilisierungsprogramme und Vereine: An Institutionen und Instrumenten im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung mangelt es nicht in der Schweiz.
T.G.: Nein, es gibt tatsächlich viele Bemühungen. Allerdings ist es für die Aktivisten sehr schwierig, die Privat-Haushalte zu erreichen und somit etwas gegen diese Verschwendung zu unternehmen.
Kommt hinzu, dass das Problem der Lebensmittelverschwendung erst seit ein paar Jahren als solches wahrgenommen und thematisiert wird. Die seither ergriffenen Massnahmen beginnen nun langsam zu greifen. Um mögliche Erfolge festzustellen, müssten neue Untersuchungen gemacht werden.
Mit "Food Bridge" erhält die Schweiz die erste webbasierte Spendendatenbank für überschüssige Lebensmittel. Was halten Sie von diesem Instrument?
T.G.: Neu an "Food Bridge" ist, dass nicht primär die Grossverteiler angesprochen sind, sondern die Nahrungsmittelindustrie. Das ist sicher sinnvoll und gut, denn die konnte man bisher – wie die Privat-Haushalte – schlecht erreichen. Kritisch kann man anmerken, dass es wiederum eher eine Symptombekämpfung ist. Die systemischen Ursachen der Lebensmittelverschwendung kann eine Internetseite nicht angehen.
Wer steht denn eigentlich am meisten in der Pflicht: Die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft oder das Individuum?
T.G.: Es stehen alle in der Pflicht. Zwar kann ich als Individuum selber entscheiden, ob ich etwas wegwerfe oder nicht. Man kann aber nicht die ganze Schuld dem Konsumenten in die Schuhe schieben. Diese Antwort greift schlicht zu kurz. Denn das Problem der Lebensmittelverschwendung ist – wie bereits erwähnt – systemisch: Unser Ernährungssystem mit den langen Wertschöpfungsketten und den Wachstumszwängen produziert fast automatisch Überschüsse. Denn für Unternehmen ist das eine Möglichkeit zu wachsen.
Man müsste also die Wertschöpfungskette verkürzen?
T.G. Genau. Wir müssen regionale und lokale Wirtschaftskreisläufe stärken. Denn, wer einen Gemüsekorb direkt bei einer Bäuerin bezieht, wird kaum etwas wegschmeissen. Es entsteht eine Beziehung zum Gemüse und zur Lebensmittelproduzentin. Das Essen bekommt eine tiefere Wertschätzung. Dieser Lösungsansatz heisst Vertragslandwirtschaft.
Persönlich engagieren Sie sich für den Verein foodwaste.ch, der sich der Information und Aufklärung zum Thema Lebensmittelverschwendung verschrieben hat. Verlieren Sie nie den Mut?
T.G.: Nein. Ich orientiere mich an der Aussage der verstorbenen deutschen Theologin und Sprachwissenschaftlerin Dorothee Sölle. Sie sagte, sie wolle sich den Luxus der Hoffnungslosigkeit nicht leisten. Auch ist Erfolg für mich kein Kriterium für mein Engagement. Denn sonst würde ich tatsächlich den Mut verlieren. Es gilt dranzubleiben. Ich kann nicht anders.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft mit Blick auf den Umgang der Schweizer Wirtschaft, Politik und Gesellschaft mit Lebensmitteln?
T.G.: Ich wünsche mir, dass alle ihre Wahrnehmung schärfen und Respekt vor den Lebensmitteln haben und vor denen, die sie anbauen. Mein Ziel ist ein gewaltarmes Ernährungssystem. Dabei denke ich auch an einen achtsamen Umgang mit Pflanzen, Tieren, Böden und Wasser. © swissinfo.ch
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